Einen humorvollen, mit reichlich Selbstironie gespickten Bericht über eine ungewöhnliche "Nicht-ganz-Radreise" (mit einigen Hindernissen) von Stuttgart nach Tübingen - nein, auch nicht richtig: nach Weilheim an der Teck - schrieb ich nach Neujahr 2000 per E-Mail an eine Bekannte (Y.) in Stuttgart. Bei ihr und einigen ihrer Freundinnen und Freunde hatte ich den Jahreswechsel verbracht und das große Stuttgarter Feuerwerk zum Jahrtausendwechsel mitverfolgt. Dazu war ich am späten Abend des 31.12.1999 nach Stuttgart geradelt.
Die Hinfahrt von Tübingen aus verlief, naja, normal - einige Male machte ich langsam wegen Glatteisbildung, außerdem pfiff mir ein steifer, kalter Gegenwind um die Ohren und verlangsamte meine Fahrt. Die Rückfahrt trat ich noch nachts in den ersten Stunden des 01.01.2000 an. Sie verlief alles andere als normal. Warum dem so war und warum ich statt, wie ursprünglich geplant, in Tübingen in Weilheim an der Teck (dem Wohnort meiner Mutter) landete, steht in dem E-Mail an Y. Ich möchte es auch anderen Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten, die wahlweise über mich oder vielleicht auch mit mir lachen wollen. Eines schließt dabei das andere nicht aus.
Halt. Zwei Bemerkungen noch: Erstens: Die unten folgende "Subject"-Zeile ist auf Walisisch abgefasst und heißt: "Glückliches Neues Jahr! Fahrradgeschichten." Zweitens: Eine wichtige Rolle in den im Folgenden beschriebenen Begebenheiten spielt der Orkan "Lothar", der nur wenige Tage zuvor, am zweiten Weihnachtsfeiertag, dem 26.12.1999 über Mitteleuropa hinweggefegt ist und überall, also auch in der Umgebung von Stuttgart, immense, katastrophale Waldschäden hinterlassen hat. Sämtliche Bäume ganzer Waldstücke waren wie Streichhölzer umgeknickt. Somit war es völlig unmöglich und aussichtslos, Waldwege zu betreten oder mit dem Fahrrad zu befahren.
Date: Fri, 14 Jan 2000 00:03:22 +0100 (MET) From: Peter Liehr <peter@peter-liehr.de> To: Y. Subject: Blwyddyn Newydd Hapus! Straeon y Beic. [Re: Prost Neujahr!] Wie gewünscht, hier kommt sie: ------------------------------------------------------------------------- DIE VERRÜCKTE GESCHICHTE DER FAHRRAD-IRRFAHRTEN DES PETER LIEHR AM ERSTEN MORGEN DES DRITTEN NACHCHRISTLICHEN JAHRTAUSENDS AUF DEM WEG VON Y. IN STUTTGART, N I C H T , WIE GEPLANT, NACH TÜBINGEN, SONDERN NACH WEILHEIM AN DER TECK, GESCHRIEBEN VON IHM SELBST, ZWÖLF TAGE SPÄTER ------------------------------------------------------------------------- Noswaith dda, Y! Gutes Neues Jahr auch Dir nochmal! Hast schon richtig vermutet, is' nicht ganz ohne Seltsamkeiten verlaufen, meine Rückfahrt... Aaalso: Klein Peter radelt los, so frei Schnauze wieder in die Innenstadt runter. Und normalerweise wär' klein Peter ja dann auch weiter Richtung Neue Weinsteige und von der dann irgendwie irgendwo links abgebogen. Dort hätte er das Rad eine der steilen Treppenstiegen hochgetragen und dann einen steilen Weg durch den Wald zum Bopser hochgeschoben. Nun bestand die Gefahr, dass der Wald sturmbedingt quer über diesen Weg läge, außerdem hatte klein Peter einfach kein' Bock auf Neue Weinsteige. Folglich. Folglich denkt sich Peterchen, er fährt frei Schnauze nach seinem manchmal (betone: manchmal) sogar sehr guten Orientierungssinn (Himmelsrichtung, Windrichtung, genaue Beobachtung von Kurvenradien und Land- / Stadt-schaftsform usw.) woanders aus dem Talkessel raus und korrigiert, einmal oben angekommen, mögliche Kursabweichungen. Du ahnst schon, wie erfolgreich ich in dieser Nacht mit dieser Aktion war. An der Straßengabelung, an der ich auf diese Weise herauskam, ging's nach Heslach weiter, zudem war die Straße ab genau diesem Punkt nur für motorisierten Kraftverkehr zugelassen. Das wollte ich mir nicht erlauben. Normalerweise hätte ich in diesem Falle ohne Zögern einen Pfad quer durch den Wald genommen, aber der Wald, der vor meinen Augen lag und sich angeboten hätte, war "ziemlich geknickt" und völlig eingeschneit. S c h e i ß e ! Alle Flüche des gesamten vergangenen Jahrtausends auf den Lippen konnte man daraufhin klein Peter eine steile Steige hinunter wieder in den Stuttgarter Talkessel zurückrollen sehen. Kafka schrieb einmal über Prag, diese Stadt lasse einen nicht los, sie habe Krallen. Aber auch wenn die Krallen von Stuttgart durch die Sturmschäden offenbar frisch geschärft worden waren, Peter gab nicht auf, überlegte sich neue Wege und versuchte, in eine andere Richtung bergauf zu entfliehen. Da fing es an zu regnen. Peter frohlockte und jubilierte. Folge: Peter, man höre und staune, gab auf und kam zur Vernunft (oder wie man das sonst nennen will...). Tja, ich radelte also in Richtung Hauptbahnhof zurück, mit dem Gedanken daran, dass man nichts übertreiben dürfe und seine Grenzen kennen müsse und ich spätestens nach zwei Dritteln der Fahrstrecke nach Tübingen, spätestens bei Waldenbuch fix und fertig sein würde und dort über eine Stunde in der Kälte pausieren müsste, um Kräfte zu sammeln. Nun ja, ausgehalten hätte ich sowas schon, hab' ich schließlich alles schon gemacht; aber so beginnt man nicht unbedingt freiwillig ein neues Jahrtausend... Am Hauptbahnhof hielt ich mich ungewöhnlich lange auf, über zweieinhalb Stunden. Grund: Die Menge der Reisewilligen überstieg das Fassungsvermögen der Züge um etwa das Doppelte. An Fahrradmitnahme war nicht zu denken. So musste ich zwei Züge sausen lassen und fuhr erst mit dem dritten in das fahle Licht des Morgens. Ich hatte bis Wendlingen gelöst, dachte ich doch, wenn ich nun ohnehin grob in Richtung Weilheim / Teck führe, könnte ich Muttern und den beiden Brüdern einen Besuch abstatten. Anders formuliert: Eigentlich is' es egal, wo man sich auspennt. Aber. Aber - ich fing mit dem Auspennen bescheuerterweise schon im Zug an ... und verpennte Wendlingen. Na egal, Nürtingen reicht ja auch noch, dachte ich mir, und stieg dort aus. Hier kenne ich ohnehin alle Strecken wie meine Jackentasche, kein Problem also. Oder doch? Ja, doch!! Hinter Nürtingen beginnt das Tiefenbachtal. Dort verläuft meine Standardstrecke Tübingen - Weilheim / Teck über mehrere Kilometer im - ja wo wohl? Richtig, im Wald. Kurz gesagt, ich kam nicht weit, Orkan Lothar sei Dank. Der vom Schock über die Verwüstungen gezeichnete Förster, den ich so traf, beschrieb mir aufs Genauste, wo der Sturm am schrecklichsten getobt hatte. Also: Umweg über die Straße. Ich weiß nicht mehr, wieviel Uhr es war, als ich heimkam, es war auf jeden Fall hellichter Tag, aber vermutlich immerhin noch Vormittag. Meine Mutter hatte gerade ausgeschlafen. Ich weiß nur noch, dass ich in einem Anfall von Heißhunger den restlichen mitgeschleppten Salat vernichtete und dann ins Bett fiel. So, hier endet die Geschichte meiner ersten Abenteuer-Odyssee (Yeah, Pathos!!!) in diesem Jahr. Immerhin, solche Sachen bieten Gelegenheit zu Training und Ertüchtigung - und nebenbei allerhand Nettes zum Erzählen, auch per E-Mail. Ich denke, Du bist zufrieden. Oder etwa nicht? Auf Kommentare, Lob, Kritik, wüste Beschimpfungen oder Drohbriefe freut sich... ...Peter [definitely the least overlookable victim of MCD (Mad Cyclist Disease)]
Auf solcherlei Text bekam ich von Y. postwendend die folgende, zur Veröffentlichung auffordernde Antwort. Was hiermit geschehen ist.
Oh Mann, unglaublich, diese Geschichte. Die solltest du echt irgendwo veröffentlichen!!! Tut mir echt leid, dass du so eine Odyssee durchmachen musstest. Hoffentlich hat deine Mutter dich wieder gut hochgepäppelt!
Meine Antwort darauf wiederum:
Na ja, bis man mich hochpäppeln muss, müssen doch gewaltig andere Dinge passieren, keine Angst. :-) Und leid tun braucht dir auch nix, ich hab's ja so gewollt. Und auch ansonsten keine Sorge. Wie gesagt, ich weiß, wo meine Grenzen sind.
Tübingen, Januar 2000 - Peter Liehr