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Bundesrepublik Deutschland

Günter Eichs Hörspiel "Die Mädchen aus Viterbo"

Bundesrepublik Deutschland: Günter Eich liefert das erste Manuskript zu seinem Hörspiel Die Mädchen aus Viterbo beim Rundfunk ab.

Handlungsort des Hörspiels ist das Deutschland des Jahres 1943. Ein Großvater und seine 16-jährige Enkelin Gabriele harren in einem von Bombenangriffen bedrohten Haus als selbst gewähltem Gefängnis aus, fürchten sich vor der Deportation und denken vage über eine Flucht in die Schweiz nach - eine Flucht, die zuvor die Hirschfelds, ihre Bekannten versuchten. Großvater und Enkelin schlafen des Tags und wachen im Schutze der Verdunklung des Nachts.

Zu Beginn des Hörspiels wacht der Großvater des Abends aus einem Traum auf, in dessen Verlauf er sich als Lehrer zusammen mit zwölf Mädchen einer Schulklasse aus Viterbo in den Katakomben in Rom verläuft - eine Situation, die sich Gabriele angesichts der eigenen Lage gut vorstellen kann. Die beiden erinnern sich daran, dass der Trauminhalt vermutlich durch einen entsprechenden Katastrophenbericht in einer Illustrierten motiviert ist. Im weiteren Verlauf wechselt das Hörspiel in die Traumgeschichte über. Dort ist die Angst, in den Katakomben nicht gefunden zu werden, vorhanden, der Lehrer versucht jedoch, sie in Schach zu halten.

Das Hörspiel wechselt schließlich wieder von der Gefangenschaft in den Katakomben zur Gefangenschaft im Haus zurück. Dass Vater bereits erschlagen und Mutter abgeholt wurde, äußert Gabriele beiläufig, als sie sich nach jemandem sehnt, der sie liebt. Frau Winter, die Gabriele und ihren Großvater, ihre beiden offensichtlich jüdischen Schützlinge versorgt, kommt vorbei und bereitet das Abendbrot zu. Auch bringt sie eine Postkarte aus Singen am Hohentwiel mit, die zu belegen scheint, dass die Hirschfelds, ihre auf der Flucht befindlichen Bekannten bereits bis dort hingelangt, jedoch noch nicht in der Schweiz sind.

Die Handlung wechselt wieder in den Traum des Großvaters zurück, Enkelin Gabriele hat vor, ihrem Großvater dessen glückliches Ende, die Rettung der Schulklasse zu erzählen. Gemäß dem Gedankenschwerpunkt Gabrieles setzt sich der Traum in einem Gespräch zweier Mädchen fort, die sich darüber unterhalten, ob man den liebe, an den man am meisten denke. Eine, die davon überzeugt ist, meint überdies, sie könne durch die Kraft der Liebe die Schritte des von ihr geliebten Emilio Faustino zu ihnen lenken.

Schließlich wechselt die Traumperspektive zu dem 45-jährigen Pietro Botari - so heißt der Lehrer im Traum, der an seine Frau Angelika denkt, über Möglichkeit und Unmöglichkeit der Rettung sinniert und betend versucht, Gott davon abzuhalten, neben ihm auch seine Schulklasse zu bestrafen. Der Perspektivwechsel zurück zu den zwei miteinander redenden Mädchen zeigt, dass Botari - möglicherweise im Schlaf - redete und sie ihm zuhörten. Eines der beiden Mädchen ist offenbar in Botari verliebt.

Die Geschichte wechselt daraufhin zu Pietro Botaris Frau Angelika und zu deren Geliebtem, die noch nicht sicher sind, ob sie den in den Katakomben Verirrten bereits aufgeben sollen oder nicht. Ein in einer Tischlerei angestellter Emilio Faustino kommt vorbei und bittet leihweise um 300 Lire, um nach Rom reisen und Botari sowie die zwölf Mädchen zu finden. Er sei des Nachts aufgewacht und habe auf einmal sicher gewusst, dass er die Mädchen finden würde, unter denen er eine liebt - diejenige eben, die an die Macht der Liebe, seine Schritte zu lenken, glaubt. Angelika Botari entschließt sich spontan, den Tischlerjungen zu begleiten und mit ihm in Rom nach den Vermissten zu suchen.

Die Handlung wechselt wieder in die Katakomben zurück, wo die Verzweiflung wächst und man subjektiv der Auffassung ist, man sei bereits fünf Tage unter der Erde - eine Sicht, die zuvor Angelikas Geliebter als korrekt bestätigte. Schließlich hören die Verlorenen tatsächlich Emilio Faustino und Angelika rufen, antworten mit verzweifelt-begeisterten Rufen und werden gefunden.

Das Hörspiel verlässt die Traumgeschichte wieder. Der Großvater ist der Auffassung, Gabriele habe sich eines Tricks bedient und die Geschichte falsch zu Ende erzählt. Die im abgedunkelten Haus Eingeschlossenen wenden sich zu Frau Winters gedecktem Esstisch. Gabriele ist sich aufgrund ihrer Eingeschlossenheit zunehmend unsicher über die Realität draußen. Sie weiß nicht mehr sicher, ob es tatsächlich Herbst ist, ob die Bäume im Herbst ihre Blätter verlieren und ob es überhaupt ein Land namens Schweiz gibt. Frau Winter erklärt ihre mangelnde Freude an der Postkarte der Hirschfelds damit, dass sie am zu Ende gegangenen Tag jemanden getroffen habe, der wiederum die Hirschfelds in Berlin im Gefängnis traf. Die Postkarte aus Singen am Hohentwiel bedeutet also nichts, folgert Gabriele. Die Angst greift um sich, von den inhaftierten Hirschfelds verraten zu werden. Frau Winter entscheidet sich trotz der Gefährdungslage dagegen, ihre Schützlinge vor die Tür zu setzen, aus Egoismus, wie sie sagt, weil sie andernfalls nicht mehr ruhig schlafen könnte. Gabriele ist der Auffassung, die Traumgeschichte, die sich immer wieder in die Gedanken mischt, wolle ihr etwas sagen. Sie entscheidet sich auf Drängen des Großvaters dafür, die Geschichte abermals auf andere Weise zu Ende zu erzählen - und das Hörspiel wechselt wieder in die Katakomben Roms.

Dort zerstreiten sich fünf Schülerinnen mit ihrem Lehrer Botari und machen sich eigenmächtig auf die Suche nach einem Fluchtweg. Eines der anderen Mädchen wirft Botari vor, dass er die fünf Mädchen hat losziehen lassen. Andere meinen, er habe es nur zugelassen, weil es gleichgültig sei, wo in den Katakomben sie seien, da sie doch ohnehin nicht gefunden würden. Eines der Mädchen gesteht offen, es sei dafür verantwortlich, dass sich die Schulklasse verlaufen habe, es habe die Klasse, um zu scherzen, absichtlich in einen falschen Gang geführt. Nach einer Weile bleibt Botari nur noch mit zwei Schülerinnen vor Ort, eine davon Antonia. Eines der Mädchen fordert Lehrer Botari dazu auf, ihnen etwas beizubringen, was ihnen jetzt nutze. Botari antwortet: "Wir brauchen Gleichgültigkeit, aber ich brauche sie euch nicht lehren, sie wird sich mit der Zeit von selbst einstellen."

Zurück im "Wachzustand", im Versteck in Frau Winters Haus. Als zum wiederholten Male Schritte auf der Treppe zu hören sind und es schließlich klingelt, fordert der Großvater seine Enkelin Gabriele auf, in die Katakomben, also zurück in die Traumgeschichte zu gehen, wohin auch die Hörspielhandlung kurzfristig wieder wechselt. Dort meint Antonia, Gleichgültigkeit angesichts des Schicksals reiche nicht, es sei vielmehr wichtig, damit einverstanden zu sein. Auch meint sie, die sich in einer früheren Katakomben-Begebenheit anders als die anderen nicht als fähig sah, zu beten, man könne wohl erst beten, wenn man nichts mehr von Gott wolle. Dann sei dass Beten ein einziges "Ja, Gott, ja".

Zurück in der "Wachperspektive" im Haus klopfen die Klingelnden zunehmend stark an die Tür. Frau Winter öffnet. Gabriele und ihr Großvater betrachten sich nun eingedenk der aus dem Traum gezogenen Lehren als fähig und bereit, sich voll und ganz Gott und dem weiteren Schicksal, also auch der drohenden Inhaftierung und Deportation zu überlassen. "Ich weiß alles, was ich brauche", sagt Gabriele zum Schluss, wodurch sie auf Antonias Äußerungen zum Einverständnis mit dem Schicksal und zum Beten frei von Erwartungen verweist.

Tübingen-Bühl, 21.01.2007 - Peter Liehr

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