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Reisen und Persönliches - Peter unterwegs

Donnerstag, 05.09.1996

Elf Tage Landstraße

Zweiter Tag

Fahrtstreckendaten
Nettofahrzeit 8 Stunden, 18 Minuten, 56 Sekunden
Gesamtstrecke 304,5 km
Höchstgeschwindigkeit 61,1 km/h
Durchschnittsgeschwindigkeit 16,5 km/h
Tagesstrecke 140,93 km

Nach Frankreich...

Zuvor schon zwei-dreimal aufgewacht, schlafe ich bis ca. 7:30 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit und fühle mich gut ausgeschlafen. 8:15 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit: Abfahrt bei der Zierheckenschonung zwischen Schaidt und Vollmersweiler -> zurück nach Schaidt (landwirtschaftlich geprägtes, hübsches Hügelland) -> Kapsweyer (Obstanbaugebiet, Straßenverkauf von Äpfeln, Birnen, Pflaumen, Mirabellen sowie Gemüse und Kartoffeln) -> Schweighofen (Mirabellen gekauft, nach dem Ort neben Weinbergen Frühstück) -> deutsch-französische Grenze -> Wissembourg / Weißenburg.

In Wissembourg sehe ich mich knapp eine Stunde lang um und überlege, warum man sich in einer Stadt, deren Baustil badisch-pfälzisch geprägt ist, nun doch sofort in Frankreich, zumindest nicht mehr in Deutschland fühlt. Ergebnis: Es ist die etwas weniger prunkvolle und nicht so strenge, gelassenere Ästhetikauffassung in der Innenstadtgestaltung (Umgang mit Straßenpflaster, Gestaltung von Grünanlagen) und besonders: die Gerüche. Metzgerei, Lebensmittelladen und sonstige Geschäfte verbergen ihre Angebote nicht so sehr, ihre Türen sind offen und die Auslagen vor dem Laden reichhaltig. Die gehaltvolle Geruchslandschaft mischt sich unter die zielstrebigen, aber selten hektischen Passanten, deren Sprache natürlich auch eine wichtige Rolle spielt.

Nach einem gemütlich angegangenen Morgen wird meine Fahrt nun anstrengend. Mit Ebene ist es nach Wissembourg nämlich definitiv vorbei.

Wissembourg (160 m) -> 12:18 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit: Col du Pigeonnier (432 m, liegt unterhalb des "Lurenkopfes" (526 m), leichter bis mittlerer Gegenwind, SCHWITZ!!, danach mit 61.1 km/h bergab) -> Climbach -> Lembach -> Niedersteinbach.

Diese miesen Anhänger-Achsen!

Nachdem mein Anhänger nicht aufhören will, seltsame Knackgeräusche von sich zu geben, stelle ich vor Niedersteinbach fest, dass dessen Achsen von so überragend schlechter Qualität sind, dass sie sich biegen und die Kugeln quetschen. Sicher, sie haben hohe "Impulslasten" zu tragen, da man teils nur mit dem Fahrrad, nicht aber mit dem Anhänger Schlaglöchern ausweichen kann. Da es sich aber um normale Fahrrad-Vorderachsen handelt - ein Einsatzgebiet, in dem wesentlich stärkere Lasten auftreten - müssten sie den Anhänger mit Leichtigkeit tragen. Mit so was habe ich nicht gerechnet, ich habe die Achskonenschlüssel nach längerer Überlegung gestern Morgen daheim gelassen. Aber ich habe - einen Hammer! Fasziniert und höhnisch zugleich sehe ich, wie sich so eine Achse - nur durch gezielte Schläge auf das äußere, kurze Stummelende - im Nabenkörper wieder geradeschlagen lässt, mögen die Hebelgesetze dem auch noch so sehr widersprechen. Diese Achsen sind tatsächlich so weich, dass man, überspitzt gesagt, wohl einen Knoten reinmachen könnte, ohne dass sie brechen! Das dürfte jedoch ihr einziger Vorteil sein... Gut, ich halte sie ab jetzt mit dieser Brachialmethode so weit in Schuss, dass sie bis Bangor durchhalten.

Gemeinsame Fahrt mit Philip

Als ich kurz darauf an einem Brunnen in Niedersteinbach meine Fahrradflaschen nachfülle, kommt Philip vorbei, mit dem ich den Nachmittag durchradeln werde. Philip ist mit vier Packtaschen recht gründlich beladen, gut trainiert und from Perth, Australia. Das ist meiner Erfahrung nach keineswegs außergewöhnlich. Da überdurchschnittlich viele Neuseeländer und Australier das Fahrrad bevorzugen, um Europa zu erkunden, ein gewisser Prozentsatz Deutscher aber auch nicht tretfaul ist, fragt man nach der Nationalität am treffsichersten in folgender Reihenfolge: Germany? Australia? New Zealand? Wäre Philip aus Frankreich gewesen, ich wäre höchst überrascht gewesen, da Franzosen sich als Packlast maximal, wirklich maximal ein Baguette in die Krümmung des (dazu erfundenen?) Rennlenkers schieben. Damit stehen sie in Europa aber nicht alleine da, so wird beispielsweise in Italien meiner Beobachtung zufolge selbst ohne Gepäck fast nicht Rad gefahren.

Niedersteinbach -> Obersteinbach -> Sturzelbronn -> Bitche -> weiter auf der N62 nach Reyersviller -> Frohmuehle -> Meyerhof -> Rohrbach -> Gros-Rederching -> Sarreguemines.

Da Philip eiligst nach Paris muss, bleiben wir bis Sarreguemines zusammen, diskutieren zunächst über Fahrradtechnik, gehen dann aber bald zu effiziernt-kooperativer Eilfahrt über, wobei ich einige Kraftreserven mobilisiere, um auf dieser ziemlich hügeligen Strecke bergauf in seinem Windschatten zu bleiben bzw. überhaupt mitzuhalten, er hingegen bergab die Windschleppe nutzt, die ich gewöhnlich nach mir ziehe, um mir hinterherzudüsen... Wie gesagt: Gepäck drückt bergab unheimlich. Bei unserer ausgiebigen Vesperpause in Bitche sitzen wir vor einem Supermarché gegenüber der großen Festungsanlage, die auf einem Felsen über der Stadt thront und offenbar auch außerhalb der Saison zahlreiche Besucher anzieht. Mich auch, aber ich habe a) wenig Zeit (wie Philip) und b) niemanden, der auf Rad und Gepäck aufpasst. Das ist der Nachteil an Radtouren alleine: Man kann nichts besichtigen. Ist man in einer Gruppe unterwegs, so teilt man sich und besichtigt nacheinander, während die übrigen jeweils als Aufpasser fungieren. Schon die Gegend vor Bitche war von Militär geprägt: Militärische Sperrgebiete (entferntes Maschinengewehrfeuer), Kasernen und ein Militärflugplatz. Strategische Standortplanung, die vermutlich noch aus der Zeit deutsch-französischer Konfrontation stammt.

Vor Sarreguemines hängt mich Philip zwar mehrmals ab, dennoch ist es gut, einen Schrittmacher zu haben, den man einholen will. Er wartet auf mich am Stadtrand, und angesichts der hereinbrechenden Dämmerung vergleichen wir unsere Übernachtungsstrategien. Philip bevorzugt Campingplätze, und ich wäre ihm heute gefolgt, aber die Befragung von Passanten ergibt, dass es keinen gibt - zumindest in Sarreguemines nicht. Der nächste Zeltplatz liegt südwestlich und auf'm Berg (in Hambach, glaub' ich; also günstig für Philip), und ich will nach Nordwesten und dem Saartal entlang. Also trennen wir uns.

Kurzfristig zurück ins deutsche Saarland

Sarreguemines -> Grosbliederstroff (...ziemlich verhunzter deutscher Name - auf der gegenüberliegenden, dt. Saarseite liegt das Pendant Kleinblittersdorf) -> Saarbrücken-St. Arnual -> Saarbrücken -> Saarbrücken-Burbach -> Völklingen.

Ich fahre auf der französischen Saarseite nach Deutschland zurück - auf einem hübschen Uferradweg in die Dunkelheit dieses angenehm warmen Abends. Verlassene Schleusenanlagen, ein paar Ausflugsradler, ich unterquere die beleuchtete Fußgängerbrücke nach Kleinblittersdorf.

In St. Arnual, einem schlichten, hübschen Wohnvorort Saarbrückens, treffen sich einige Arbeiter in den Kneipen um den dreieckigen, gepflastert-geschotterten Dorfplatz. Einige sitzen draußen und genießen die Abendluft, alle Kneipen haben Gartenstühle und -tische. An einer Seite des Dreiecks sind drei Lokale nebeneinander, eines davon ein italienischer Schnellimbiss, will man meinen, angesichts des Straßenverkaufs am Schiebefenster und der nicht übermäßigen Preise. Ich bestelle aus etwas höherer Kategorie und bekomme nach längerer Zeit eine zu meiner Überraschung große, käseüberbackene "Combinazione" (Nudelgericht mit Sauce und so ziemlich allen italienischen Nudelsorten) in einer Steingutform. Delikat! Egal in welchem der drei Lokale man hier bestellt hat, man setzt sich zu demjenigen, mit dem man schwätzen will und wird dort auch bedient, selbst wenn das zwei Häuser weiter liegt - und man seinen Gesprächspartner zum ersten Mal sieht. Die Offenheit überrascht den "Schwaben".

Saarbrücken

Weiter ins nächtliche Saarbrücken. Stadtzentrum ansehen. Großer, hell beleuchteter, zentraler Platz in der Fußgängerzone. (Hab' vergessen, wie der heißt.) Viel Musik aus verschiedenen Lokalen, viele Jugendliche, spätes, buntes Treiben. Lädt zum Verweilen ein, mir gefällt's unheimlich.

Dann mache ich den "Der-Nase-Nach-Test" und scheitere kläglich! Auf den meisten Radtouren reitet mich mindestens einmal der Teufel: Ich will in einer Stadt testen, wie gut mein Orientierungsvermögen ist bzw. wie gut sich besagte Stadt eignet für meinen spezifischen "Orientierungsinstinkt" (über den ich dann hinterher meistens sehr enttäuscht bin). Genauer gesagt, ich missachte die Wegweiser und versuche, ohne Stadtplan und nur im Besitz einer Landkarte 1:200 000, herauszufinden, - ob es nicht doch einen kürzeren, fahrradgeeigneteren Weg nach Völklingen gibt. Fazit: Alle getesteten Straßen führen nach oben, d.h. aus dem Saartal raus nach Norden. Außerdem kenne ich jetzt diese Ringstraße (die mit dem großen Techno-Tempel) in- und auswendig, und es hätte nicht viel gefehlt, um auch noch durch die Logik der Ampelschaltungen durchzublicken. Nach so einer Aktion bin ich eigentlich immer für eine Weile geheilt. Also doch den Wegweisern nach...

Schlaflos in Völklingen

Lange, sehr lange nach Mitternacht (und außerdem: totmüde!!) passiere ich dann das Ortsschild "Völklingen" und radle im Kriechtempo der unendlich scheinenden Hauptstraße entlang, wobei mich einige, "verwunderte" Polizeiautos auffällig langsam überholen. Die Stadt nimmt kein Ende und ich kann nicht mehr. Erschöpft finde ich schließlich eine dunkle Ecke hinter der Lieferantentür eines (...). Ich will hier keine Beschwerde- oder sonstigen Briefe der umliegenden Anwohner auf mich ziehen und daher von einer eingehenden Beschreibung absehen. Außerdem wird es mir hier eineinhalb Stunden später ohnehin zu mulmig und ich verlege meinen Schlafplatz zu einem (...) einige Kilometer weiter.

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Bangor, Herbst / Winter 1996; Tübingen-Bühl, August 2005 und Juni 2006 - Peter Liehr

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