Fahrtstreckendaten | |
Nettofahrzeit | 9 Stunden, 12 Minuten, 12 Sekunden |
Gesamtstrecke | 579,4 km |
Höchstgeschwindigkeit | 53,7 km/h |
Durchschnittsgeschwindigkeit | 17,7 km/h |
Tagesstrecke | 171,37 km |
5:55 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit: Seit einiger Zeit liege ich wach, betrachte das sich andeutende Morgenrot, denke über alles Mögliche nach und freue mich über meine bisherige Streckenleistung. Es ist kühl und unendlich still, die Geräusche der vereinzelten Autos auf der N43 verlieren sich in der Weite des Hügellandes. In den tieferen Lagen bilden sich fahle Nebelseen, ich raffe mich auf, packe rasch zusammen und nehme den mühsamen, aber direkten Weg zurück zur route nationale, indem ich das Fahrradgespann am Rande eines Ackers entlang "pflüge" und dann die Böschung hinaufwuchte. So, jetzt bin ich richtig wach und erschöpft zugleich - strange feeling.
Schlafplatz hinter Anoux -> Mainville. Da der Wind, der über Nacht verstummt ist, wieder leicht einsetzt, frühstücke ich im Windschatten des Pförtnerhauses eines winzig wirkenden, stillgelegten Bergwerkes, das man nur durch den kleinen Förderturm von einer sonstigen Fabrik unterscheiden kann. Die besprühten Wände und Mauern zeugen noch vom Kampf der Kumpel um ihre Arbeitsplätze. Ein Stück weit die Straße runter schraubt ein Mann im Motor eines Omnibusses rum. Kurze Zeit später ist er fertig und überholt mich, lachend, winkend. Die Sonne ist die zuvor beschattete, gegenüberliegende Hauswand heruntergewandert und wärmt nun schon etwas. Keine Spur von Nebel mehr.
Mainville -> Landres -> Xivry-Circourt -> Mercy-le-Bas -> Boismont -> Pierrepont.
Ich bin nun inmitten einer Gegend, in der die Grausamkeiten der Vergangenheit tiefe Spuren hinterlassen haben. Überall findet man Hinweisschilder auf Soldatenfriedhöfe, und das wird sich bis Calais nicht ändern. In Pierrepont besuche ich einen französischen, ein paar Kilometer dahinter einen deutschen. Das Ergebnis des Vergleichs? Schwer in Worte zu fassen.
Pierrepont, -> Longuyon -> Noers, bei mittlerem Seiten- bis Gegenwind weiter nach -> Marville, dahinter schon wieder ein Militärflugplatz. Dahinter, bei -> Iré-le-Sec, kurze Fahrt durch Windschatten spendenden Wald. Danach wird es noch besser, es geht in raschem Tempo bergab, und ein malerischer Panoramablick auf -> Montmédy tut sich auf.
In Montmédy (13:30 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit) kaufe ich ein und vespere ausgiebig vor dem Supermarkt. Der beim Fahren vergessene Hunger meldet sich in der Regel beim Einkaufen. Nach der Steigung hinter der Stadt zeigt sich die Landschaft weiterhin von ihrer besten Seite. Panoramisch überblickbares Agrar- und Forstland; das klare Wetter lässt Wald und Ackerfurchen in sattesten Farben erstrahlen, die Bahnlinie, die sich von fern heranschlängelt, gibt dem Bild noch weitere Tiefe.
Montmédy -> Thonnelle -> Thonne-le-Thil -> Montlibert
Etwa die Hälfte des nun folgenden Streckenabschnitts bis Sedan wird durch Windschattenfahren besonders effizient: Ein älterer Rennradfahrer zieht an mir vorbei, und ich setze alles daran, ihn einzuholen, mitzuhalten. Es gelingt. Anfangs unterhalten wir uns ein wenig, und als er mir dann "Au revoir" sagt und Gas, pardon, Kette gibt, sag' ich "Denkste!" und lasse mich penetrant nicht abschütteln. In einer Ortschaft im Chiers-Tal fährt er raus, ich bedanke mich fein brav für den Windschatten und versuche nun, warmgefahren und fit, auch ohne letzteren die Geschwindigkeit zu halten, was mir sogar annähernd gelingt. Die wenig hügelige Straße und der nur schwache Gegenwind kommen mir zugute.
Montlibert -> Margut -> Fromy -> Linay -> Blagny -> Carignan -> Wé -> Sachy -> Pouru-St. Remy -> Douzy -> Bazeilles.
Kurz vor Bazeilles fetzt ein sichtlich bestens trainierter Rennradler an mir vorbei. Mich reitet der Teufel, ich gebe alles!! Schneller! Trittfrequenz um 110 U/min. Hochschalten! Seine Geschwindigkeit erreichen! Er ist 70 Meter vor mir. Schneller! Einholen! Klappt, langsam spüre ich seinen Windschatten. Jetzt muss ich nur noch sein Tempo halten. Aber Moment mal, das da an der letzten Abfahrt, das war doch gerade ein Autobahnschild! Und der Typ fährt glatt weiter, obwohl die N43 ab hier bis Charleville-Mézières zur A203 wird. Die Gewissheit, hier komplett fehl am Platze zu sein, nagt an meiner Entschlossenheit, ihm zu folgen. Wenn jetzt eine Polizeistreife vorbeikommt... Als wenig später ein motorisierter Drachenflieger tief über der Autobahn entlang fliegt, lasse ich den Rennradler sausen und fahre auf der Standspur, auf der ich eh schon bin, ganz rechts raus, halte an und überlege. Schnauf! Die nächste Ausfahrt ist laut Karte noch ein ganzes Stück weit entfernt. Davor, oh Schreck, kommt ein Autobahndreieck. Der Schotterweg da, tief unten vor der Böschung, sieht so aus, als sei er nur zum Sich-Verfahren gut, und das ganze, riesige Stück Standspur zurückschieben kommt nicht in Frage. "Sch.....!!!" Also weiter auf der Autobahn. Höchste Vorsicht am Autobahndreieck: Verkehr durch Rückspiegel im Auge behalten, raus auf die Fahrspur, vorbei an der Ausfahrtspur. Uff, geschafft! Erstaunlich wenige machen ihrem Unmut über mich durch Hupen Luft. Und Polizeiautos tauchen auch nicht auf. Jetzt dasselbe noch mal an der Einmündungsspur - klappt! Als dann endlich die zweite Ausfahrt nach Bazeilles kommt, bin ich sehr erleichtert. Ehrlich!
Bazeiles -> Balan, dort Einkauf -> Sedan -> Wadelincourt -> Donchery -> Pont-à-Bar -> Dom-le-Mesnil. Hier jubelt eine am Straßenrand "aufgereihte" Hochzeitsgesellschaft statt dem erwarteten Auto mit dem Brautpaar nun mir zu. Hihi, zu komisch!! Von außen betrachtet sieht das sicher aus wie eine Verarschung der Tour de France à la Monty Python. -> Flize -> Les Ayvelles -> Villiers-Semeuse (tiefstehende Abendsonne) -> Charleville-Mézières (Berufsverkehr und unübersichtliche Wegweiser erfordern viel Konzentration.) -> Zurück auf die N43, die beim -> Flughafen von Charleville-Mézières kurzzeitig wieder vierspurig wird. Da sie aber nicht Autoroute heißt, brauche ich keine Angst zu haben, aus dem Verkehr gezogen zu werden.
Es wird dunkel und ich fahre weiter, um aus dem Stadtbereich Charleville-Mézières herauszukommen. Zudem bin ich noch fit genug für ein gutes Stück Nachtfahrt, außerdem will ich möglichst frühzeitig in Bangor sein, und letztendlich habe ich einfach noch keine Lust, ein Nachtlager zu suchen. Es hat zugegebenermaßen etwas Spannendes, Herausforderndes, in tiefster Nacht auf unbekanntem Terrain einen Platz zu finden, am dem man möglichst schlecht zu entdecken ist.
Aeroport de Charleville-Mézières -> Tournes -> Charoue. Die zumeist gerade Straße führt durch leicht hügeliges Ackerland, zeitweise auch am Waldrand entlang. Ein übertrieben hell angestrahltes, riesiges Umspannwerk. Hunderte orangefarbener Natriumdampflampen blenden in die Ferne und lassen die Umgebung zu künstlicher Modellbahnlandschaft erstarren. Wenig Verkehr. Die klamm-kühle Nachtluft der Überlandstrecken wird in den villages von der mit Lachen und Musik vermengten Wärme offener Kneipentüren verweht. Die vielen kleinen Ortschaften wirken nachts anziehend und abstoßend zugleich. Mein jetziger Zustand, "fahrttrunken", verzerrt meine Wahrnehmung ins Märchenhafte. In einem der folgenden Orte mache ich noch eine Vesperpause auf der Ladepritsche eines neuen Traktoranhängers vor einem Landmaschinenhandel.
Charoue -> Cliron -> Harcy -> Rimogne -> Tremblois-lès-Rocroi -> Mon Idée (Der Ort heißt wirklich so!) -> Tarzy -> Auge (Der auch. Dahinter ergebnislose Suche nach einer Schlafgelegenheit.) -> Bellevue bzw. Schlafplatz dahinter.
In Bellevue stelle ich vor einer öffentlichen Wanderkarte den Drahtesel ab, um mir die Füße (und die Müdigkeit) zu vertreten, als ein dunkelblauer Kastenwagen anhält. Polizeikontrolle. Was ich hier mache? Radfahren. Achso. Ob ich "une pièce d'identité" habe? "Un moment." Kurzes Kruschteln, "voilà!". Im Schein einer koffergroßen "Taschenlampe" werden Personendaten aus meinem Ausweis in ein Laptop getippt und per Funktelefonanschluss wer weiß wohin verschickt, wahrscheinlich nach Paris. Sekunden später trifft die Antwort ein. Gewonnen: Ich existiere! Und bin weder vorbestraft noch ausgebrochen. Alles andere ist offenbar uninteressant. "Au revoir." Und weiter fahren sie, um Herumtreiber wie mich aufzugabeln - oder eben auch nicht. Verblüffend, wie gut die hiesige Polizei ausgestattet ist. Nur bin ich mir noch nicht recht im Klaren, was ich von dieser zweifellos effektiven Fahndungsmethodik halten soll.
Völlig ermattet, übernachte ich hinter Bellevue nahe einem Viehstall am Feldrand neben einer Hecke. Es ist zu meiner Überraschung erst kurz nach Mitternacht.
Bangor, Herbst / Winter 1996; Tübingen-Bühl, August 2005 und Juni 2006 - Peter Liehr