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Reisen und Persönliches - Peter unterwegs

Sonntag, 08.09.1996

Elf Tage Landstraße

Fünfter Tag

Fahrtstreckendaten
Nettofahrzeit 7 Stunden, 12 Minuten, 21 Sekunden
Gesamtstrecke 709,7 km
Höchstgeschwindigkeit 53,3 km/h
Durchschnittsgeschwindigkeit 18,8 km/h
Tagesstrecke 130,26 km

Um 8:10 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit stehe ich auf und fahre nach kurzem Vesper eine halbe Stunde später ab. Schlafplatz hinter Bellevue -> Laurembert -> Hirson, dort ausgedehntes, zweites Frühstück vor einem geschlossenen Hypermarché. Eine regelrechte Fressorgie mit Obst, Baguette, Müsli und Joghurt stillt meinen nicht unbeträchtlichen Treibstoffbedarf, wofür es mehr als einer Stunde Zeit bedarf. Ein kleiner Regenschauer erinnert mich daran, wie dankbar ich für das bisherige Wetter sein kann. Um Verdauen und Radfahren in Einklang zu bringen, leidet im Folgenden die Geschwindigkeit etwas.

-> Mondrepuis -> La Capelle -> Le Nouvion-en-Thiérache -> Bergues -> Catillon, hübsche, in zwei Blautönen gestrichene Zugbrücke über den Canal de la Sambre à l'Oise.

Auch wenn der Gegenwind meiner Geschwindigkeit enge Grenzen setzt, komme ich jetzt zumindest fitnessmäßig so sehr in Fahrt, dass ich Schwung ausnutze und-> Le Cateau-Cambrésis durchquere, obwohl der Charakter und die Gebäude der Stadt (Musée Matisse) ein kurzes Umherschlendern und ein paar Fotos nahegelegt hätten.

Sanfte Kollisionen und schräge Impressionen

Le Cateau-Cambrésis -> Inchy -> Caudry.

Wenn ein bepacktes Reiserad vorbeifährt, dann ist das für die meisten Franzosen schon relativ beeindruckend. Aber wenn dann einer kommt mit einem bepackten Rad mit Anhänger, dann flippen offenbar besonders in dieser Gegend einige aus, drehen durch, werden schier verrückt. Überall herrscht großes Verlangen, dass ich bemerken solle, wie ich bemerkt werde. Vom Trottoir oder aus vorbeifahrenden Autos wird wild gewunken, teils gehupt, man sieht mich und will selbst meine Aufmerksamkeit erregen, auch wenn man weniger auffällig ist. In Inchy radelt auf dem Gehweg ein Junge im Schritttempo neben seiner Freundin her; sie blickt nach hinten, bemerkt mich und tippt ihm aufgeregt auf die Schulter, worauf nun er die Augen nicht mehr von mir wegkriegt, mich anstarrt und bei meiner Vorbeifahrt der Drehung seines Kopfes dummerweise unbewusst auch eine Drehung seines Lenkers folgen lässt - bis er schließlich gegen seine Freundin fährt. Autsch!

Der Ortseingang von Caudry unterscheidet sich nicht sehr von dem anderer Städte ringsumher. Auf riesigen Plakaten werben die Supermarktketten um die Wette - eine karminrote, eigenwillig designte, meiner Meinung nach potthässliche Mikrowelle mit ovalem Sichtfenster scheint derzeit ganz besonders "in" (oder billig?) zu sein. Doch halt: Hinter dem Plakat steht was ganz besonderes: Die "Madonna für die Straßenbenutzer". Dahinter verbirgt sich ein übergroßes Dreiecks-Warnschild für nicht näher bestimmte Gefahren. Richtig, das mit dem senkrechten schwarzen Balken drin. Nur ist hier an des Balkens Stelle eine Marienfigur hingehängt worden. Sehr geschmackvoll - Road-Movie-Feeling auf der französischen Landstraße.

Der Körper und seine Belastungsgrenzen

Beauvois-en-Cambrésis -> Igniel. Hier spüre ich ein zunehmendes Ziehen in der linken Achillessehne. Ein Warnsignal, das mir zu Denken gibt: Meine Tretkraft übersteigt offenbar mittlerweile die Zugbelastbarkeit meiner Ferse. Ich muss lernen, zu dosieren. Gymnastik- und Massagepause in einer Haltebucht. Viel Schwerverkehr, eine Großmolkerei im Blickfeld - weg hier!

Igniel -> Cambrai.

Von Cambrai nehme ich nur wenige Erinnerungen mit - eine triste, vierspurige Straße, monotone Wohnsiedlungen, entlegene Industrie, viel Beton. Auch das Zentrum gibt nicht viel her. Dafür schaffe ich es hier recht problemlos, der Nase nach die richtige Brücke über den Canal de St. Quentin zu finden.

Gegenwind und Vergangenheit

Mein Ehrgeiz, rechtzeitig Wales zu erreichen, mischt sich mit der Neugier auf England. Die offene Frage, ob es sich dort auch relativ problemlos radfahren lässt, treibt zur Eile an, obwohl ich gut in der Zeit liege. Ob sich der Wunsch erfüllen lässt, am morgigen Nachmittag die Kanalküste zu erreichen? Ich werde einiges daran setzen, zumal die Straße hier fast 70 Kilometer lang pfeilgerade ist. Aber der Gegenwind, mein neuer, zuverlässiger Begleiter, der zum Meer hin immer stärker wird, setzt dagegen. Hoffentlich meldet sich meine Ferse nicht so bald wieder! Mit dem Nachrichtensender France-Info lockere ich die Eintönigkeit der Flachlandfahrt Cambrai - Arras etwas auf. Zum Abendessen setze ich mich wieder einmal vor einen geschlossenen Supermarkt, ich glaube, bei Villiers-lès-Cagnicourt, weil einem in dessen Windschatten nicht gleich alles wegfliegt. Die Weiterfahrt auf Arras zu, bei einem fahlen, sehr spätherbstlich wirkenden Sonnenuntergang, ist geprägt von Hinweistafeln auf britische und kanadische Soldatenfriedhöfe und Kriegerdenkmäler. Eines davon, unmittelbar an der Straße, schaue ich mir an.

Cambrai -> Raillencourt -> Marquion -> Baralle -> Villers-lès-Cagnicourt -> Haucourt -> Vis-en-Artois -> Autobahnanschluss hinter Guémappe, hier wird es nun völig dunkel -> Arras, zwischen Industriegebieten und Anfang Innenstadt nochmal Verschnaufpause. In der Stadt Fahrt zunächst nach Beschilderung, an einem großen Kreisverkehr bin ich dann aber doch mit meinem Latein am Ende und erfrage meinen Weg in die Vorstadt -> Anzin. Verkehrsberuhigungsmaßnahmen zeigen, dass ich nun, nach zwei Tagen, die N43 verlassen habe (D341). -> Schlafplatz in Étrun.

Bei der ersten Abbiegung nach Étrun setze ich mich an einen Elektromast. Die Erschöpfung übermannt mich, und ich dämmere eine beträchtliche Weile lang im Halbschlaf vor mich hin. Immer, wenn ich etwas wacher bin, schweift mein Blick unwillkürlich in Richtung Mont St. Eloi, wo die hell angestrahlte Ruine eines Kirchenbauwerks hohl wie ein Schädel, gespenstisch und beeindruckend in die Gegend blickt. Im Artois ist der Krieg vielerorts Gegenwart geblieben. Lange Zeit später schaffe ich, mich aufzuraffen. An einem holperigen Feldweg nach Étrun will sich kein Schlafplatz finden lassen, also schaue ich mich im Ort selbst um. Reiche Einfamilienhäuser, 1970er bis 1990er Jahre. Daran angrenzend, aufs Feld hin, ein Wellblechunterstand für Traktoren und Landgeräte. Prüfender Blick außen herum: O.K. Das Gestrüpp daneben plätte ich, indem ich den Anhänger rückwärts hineinbugsiere. Pssst! Keine Hunde wachmachen. Um 23:30 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit geht's dann endlich "ab ins Bett".

P.S.: Heute musste ich mal wieder die Achsen meines Anhängers geradehämmern. Die Dinger ärgern mich, sie sind wirklich schrecklich weich, eine Legierung aus Heizungsrohr und Gummibärchen oder so was ähnliches.

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Bangor, Herbst / Winter 1996; Tübingen-Bühl, August 2005 und Juni 2006 - Peter Liehr

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