Fahrtstreckendaten | |
Ankunft im Fährhafen Calais (23:41 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit) | |
Nettofahrzeit | 7 Stunden, 33 Minuten, 0 Sekunden |
Gesamtstrecke | 836,5 km |
Höchstgeschwindigkeit | 53,9 km/h |
Durchschnittsgeschwindigkeit | 15,7 km/h |
Tagesstrecke | 126,80 km |
Ankunft am Schlafplatz bei Dover (2:00 Uhr britischer Sommerzeit) | |
Nettofahrzeit | 8 Stunden, 15 Minuten, 34 Sekunden |
Gesamtstrecke | 843,1 km |
Höchstgeschwindigkeit | 53,9 km/h |
Durchschnittsgeschwindigkeit | 15,7 km/h |
Tagesstrecke | 134,01 km |
Schlafplatz bei Étrun -> Mont St. Eloi -> Camblain-l'Abbé -> Les 4 Vents -> Estrée-Cauchy -> Gauchin-Légal -> Rebreuve.
Kurz nach 6:00 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, kurz vor Sonnenaufgang rasch und spärlich gefrühstückt. Ich sollte hier weg sein, bevor die Hunde Gassi gehen und mich eventuell wittern. Außerdem muss ich endlich mal wieder einkaufen. Mist, die Luftmatratze hält nicht mehr ganz dicht. Abfahrt. Frösteln im Morgentau. Nebelbildung. Fotos von der Ruine der Abbé de Mont St. Eloi. Sah gestern Nacht eindrucksvoller aus, aber da war ich "zu tot zum knipsen". Kurz nach Étrun geht's steil bergab, und auf halber Höhe bietet sich ein Platz vor einer Kneipe für noch bessere Fotos von der Abbé de Mont St. Eloi an. Kurzer Halt.
Der heutige Morgen eignet sich bestens dafür, sich warmzufahren. Noch kaum Wind, leichtes Frösteln, von ersten, sofort auf der Haut spürbaren Sonnenstrahlen durchbrochener Morgennebel und -tau über angenehmem Hügelland. Es gibt nichts Schöneres als die hieraus entstehende Stimmungslage auf einer großen Radtour - etwas für Genießer! All das, obwohl ich jetzt im Artois bin, in der Gegend also, wo die übrigen Franzosen gerne diejenigen hinschicken, die dorthin sollen, wo der Pfeffer wächst. Eine Zwangsversetzung hierher wird von manchen heute noch als eine Art Verbannung angesehen. Aber das wirkliche, von vergangenem Bergbau und meines Wissens hoher Arbeitslosigkeit geprägte Artois mit seinen Abraumhalden wird sich erst kurz vor Divion auftun. Vorerst geht's durch freundliches Feld-, Wald- und Hügelland.
Gleich bei Mont St. Eloi findet sich der für heute erste Hinweis auf einen (britischen) Soldatenfriedhof. In Camblain-l'Abbé vergeblicher Versuch, beim Bauern Lebensmittel zu kaufen. Der hofeigene Laden ist noch zu. Als ich kurze Zeit später in Estrée-Cauchy einen alten Mann auf diese Einkaufsmöglichkeit hin frage, weist er mich auf die Läden in Houdain hin. Bis dahin ist es zwar noch ein Stück Fahrt, und Hunger hab' ich auch nicht wenig, aber einverstanden. Im Gespräch zeigt er sich erfreut über meine Art, Urlaub zu machen. "Zu viele Autos hier, viel zu viele Autos." Gerade setzt der Berufsverkehr ein.
Zwischen Estrée-Gauchy und dem Weiler Gauchin-Légal ist eine Stufe in der Landschaft. Ziemlich überraschend geht es in einer Serpentine steil bergab, und während oben die Landschaft eben noch lichtdurchflutet war und ich schon in T-Shirt und Shorts fahre, beschränkt der Nebel hier die Sicht auf etwa 20 Meter. Anhalten, Licht am Anhänger anknipsen, Trainingsanzug auf die nasse Haut. Aber schon in Rebreuve ist der Spuk wieder vorbei. Kurz vor Rebreuve ist ein Kleinlieferwagen gezwungen, wegen anhaltenden Gegenverkehrs längere Zeit hinter mir herzuschleichen. Als er schließlich an mir vorbei ist, zeigt der Fahrer mir durch die Heckscheibe so überdeutlich den Vogel, als wolle er sich geradezu ein Loch in die Schädeldecke meißeln. Manche halten meine Reisemethode eben doch für gesponnen.
Rebreuve -> Houdain -> Divion.
Sehr erfreut und wissbegierig zeigt man sich dagegen in dem Obstladen in Houdain, jenem von seinem markant an den Hang gebauten Friedhof so sehr geprägten Ort. Weder Herkunft noch Ziel will man mir so recht abnehmen, während ich mich mit Pfirsichen und Mirabellen eindecke.
Nach meiner großen Fahrt werde ich beim rückblickenden Kartenstudium feststellen, dass ich bei meiner Pause in Houdain wohl ziemlich genau die halbe Fahrtstrecke nach Bangor hinter mich gebracht habe.
Kurz hinter Houdain, auf Divion zu, eröffnet die Landschaft einen Panoramablick auf das Konglomerat um Bruay-La-Buissière und Béthune. Ältere Industriebauten, insbesondere viele Abraumhalden. Als ich dann von 10:20 Uhr bis 11:30 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt von Divion raste, schaue ich mir die Gesichter der Einkaufenden genauer an, die mich ebenfalls als skurrile Erscheinung beäugen. Faltige, von schwerster Arbeit und Alkohol gezeichnete, staubige Hände und Gesichter, die in ihrer Zerfurchtheit an strategische Landkarten erinnern, oft auch an die Arbeitsklamotten ihrer Träger. Manche Gesichter wirken eher verzweifelt, viele aber in ihrer Eigenart erstaunlich würde- und charaktervoll, wobei das eine das andere nicht ausschließt. Hier wird noch schnell eingekauft, bevor die Spätschicht in der Zeche beginnt, könnte man meinen, wäre nicht der Bergbau der Region schon in früheren Jahren zum Erliegen gekommen.
Ein älterer, sauber gekleideter Herr ohne faltiges Gesicht weckt mich aus meinen Gedanken und zeigt sich interessiert für meine Tour, besonders aber für meinen Anhänger. Wo der denn hergestellt würde und wo man ihn beziehen könne. So einen Anhänger, allerdings für Kinder, habe eine junge Familie auch dabei, die gerade die Welt umradle, und von der eine französische Illustrierte regelmäßig berichte. Sichtlich sind Fahrradanhänger hier noch ziemliche Seltenheiten; der Mann zeigt sich begeistert, vom Fahrradtourismus allgemein - und eben von la remorque, dem Anhänger, der auch mir jetzt beim Verstauen meines Einkaufs entgegenkommt, weil er nicht ganz voll ist. Man muss nicht so dicht packen wie auf anderen Radtouren.
Am Ortsrand von Divion befindet sich eine verlassene, einsturzgefährdete Backstein-Industriehalle, die mir als Fotomotiv besonders entgegenkommt. Danach muss ich wieder zur D341 zurückfinden, nach längerem Aufenthalt geht es also weiter. Zunächst kreuze ich das kleine Tal von Calonne-Ricouard, ein Vorbote auf die Landschaft bis Estrée-Blanche: Die an sich kerzengerade, auf ebener Landschaft befindliche Straße muss sich noch zwei weitere Male wegen "überraschend kreuzender Täler" in Serpentinen hinunter- und wieder hinaufschlängeln.
Dafür, dass es hier offenbar teilweise unter der Jugend ein "no future"-Problem gibt, dafür könnte der Junge in Calonne-Ricouard ein Indiz sein, der auf sich aufmerksam macht, indem er ohne Helm mit wahrscheinlich über hundert "Sachen" auf einem Motorrad durch die Hauptstraße rast und durch das von den Hauswänden zurückgeworfene, ohrenbetäubende Echo seines kaputten Auspuffs die Ortsbevölkerung auf die Straße treibt, die ihm erschrocken hinterher schaut. Eine halbe Amokfahrt ohne Opfer.
Divion -> Calonne-Ricouard -> Cauchy-à-la-Tour -> Ferfay -> Amettes (in einem Tal mit sehr steilen Hängen gelegen, schnelle Abfahrt vorher, starke Steigung danach) -> Tal vor Estrée-Blanche -> Estrée-Blanche -> Thérouanne.
In Cauchy-à-la-Tour: Du fährst an die Kreuzung, hältst an, schaust nach rechts, nach links, musst eine Menge Gegenverkehr passieren lassen, klickst in die Pedale ein und fährst dann los. Zwischendurch streifen deine Augen flüchtig die Verkehrsinsel in der Mitte. Halt! Was war da? Tatsächlich! Da steht sie, zwischen Schwerverkehr und Hauswänden mit abblätternden Plakaten - die Guillotine!! Man erschrickt, wenn man so unvorbereitet plötzlich auf ein so grausames Überbleibsel von vor über zweihundert Jahren stößt. Die Hinweistafel an dem auf einen Pferdekarren montierten Fallbeil erklärt dieses als einen Nachbau aus dem Jahre 1989 und gemahnt: "Auch das ist Teil unserer Geschichte. Respektieren sie ihn!" Dass er aber nicht völlig respektiert wird, zeigen die Brandspuren unterhalb der Kopfauflage. Trotzdem, und mag die riesige Klinge auch noch so fest an ihre Fallschienen angeschweißt sein: der tiefe Eindruck bleibt. Die zweite Guillotine am Straßenrand, von der nur noch das Fundament mit den Metallzungen zum Anschrauben der Holzkonstruktion übrig ist, diente für das niedrige Volk, dem das Privileg versagt blieb, auf einem Pferdewagen umgebracht zu werden.
Langsam mache ich mir Sorgen, ob ich nicht möglicherweise doch etwas zu auffällig bin. Im Obergeschoss eines Hauses in Ferfay putzt eine Frau Fenster. Sie schaut mir nach wie einem Ungeheuer und verliert dabei in ihrer unsicheren Standposition im Fensterrahmen fast das Gleichgewicht.
In der Talsohle vor Estrée-Blanche überholen mich vier britische Oldtimer, die sich wohl auf der Rückfahrt von einem Tagesausflug befinden. Ein gutes Zeichen, der Ärmelkanal kann also nicht mehr allzu weit sein. Keine zwei Minuten später werde ich, bergauf kriechend, sehr schnell und äußerst kritisch in einer Kurve überholt. Au Backe, der hat meinen Anhänger nur ganz knapp verfehlt! Das hätte böse schiefgehen können!
Von Estrée-Blanche bis Thérouanne ist le plat pays angesagt, flache, monotone Feldlandschaft. Der Gegenwind, der in Divion eingesetzt hat und seitdem immer stärker geworden ist (60 km/h Windgeschwindigkeit hieß es gestern im Radio), pfeift kalt in den Ohren, strengt an und treibt immer wieder leichte Nieselschwaden mit sich, so dass ich mich zum Ausruhen in den Windschatten eines seltsamen, bunkerartigen Betonbaus am Straßenrand, mitten in der Landschaft, setze.
In Thérouanne darf ich die Abzweigung nach St. Omer nicht verpassen. Am Ortsausgang fängt es dann richtig ekelhaft, waagrecht und peitschend zu regnen an. Nein, beschweren darf ich mich nicht, es ist das erste Mal auf der Tour, dass ich von meinen Regenklamotten Gebrauch machen muss. An eine Hauswand gedrückt, warte ich das Ärgste ab. Aber, aber! Ich werde doch nicht schon so verwöhnt sein, dass ich nicht mehr im Regen fahren will!?
Thérouanne -> Heuringhem -> Blendecques -> St. Omer.
Schon auf der geschwungenen, teils vierspurigen Strecke nach Heuringhem legt sich der Regen wieder. Nach der Steilabfahrt nach Blendecques muss ich mit dem gesamten Feierabendverkehr einem Heuwagen nachschleichen. Vorbei an der üblichen Supermarkt-Vorstadt-Bebauung von Blendecques nach St. Omer geht's rasch, was aber den Weg aus der Stadt angeht, so bringt mich meine Karte an einer Kreuzung doch zum Rätselraten. Was allerdings daran liegt, dass sie von 1994 stammt und hier in letzter Zeit viel gebaut wurde, wie ich im Nachhinein feststellen werde. Fälschlicherweise bin ich der Meinung, schon durch Arques gefahren und bereits in St. Omer zu sein.
Als ich nun auf dem Gehweg vor einem großen Wegweiser sinniere, wird die Fußgängerampel grün, und ich bin schnurstracks von einer Menge Schülerinnen und Schüler auf dem Heimweg umringt, die sich über mich, mein Rad und besonders den Anhänger mokieren. Auf die Nennung von Herkunft und Fahrziel hin müssen sich einige dermaßen totlachen... Also nein! Schnell sind alle wieder weg, einer bleibt aber länger und schaut sich mich noch mal ungläubig an.
Da die "Richtungsentscheidung" in St. Omer falsch war, ist jetzt von meiner zweiten großen Verfahr-Aktion nach Saarbrücken zu berichten: St. Omer -> Flughafen und Gefängnis von St. Omer -> Wizernes -> gewendet bei Pihem -> Wizernes -> Flughafen und Gefängnis von St. Omer -> Longuenesse -> Tatinghem -> St. Martin au Laert.
Ich bemerke nicht, dass ich noch gar nicht richtig in St. Omer drin, geschweige denn hindurch war, daher fahre ich, aus Süden gekommen, in süd-südwestlicher Richtung wieder raus. Da ich mir meiner Sache nicht sicher bin, frage ich vor dem Flughafen einen sehnigen, ziemlich alt wirkenden Rennradler aus der Gegenrichtung, der damit beschäftigt ist, eine Karte zu konsultieren, allerdings in einem Maßstab... Na ja, ganz Europa ist dann doch nicht drauf. Er ist auch Fernradler, kommt aus einem der baltischen Staaten, hat lediglich eine fußballgroße Rennradtasche hinter dem Sattel seines Aluminium-Edelrennrades ohne Schutzbleche oder sonstige Tourenausstattung eingeklickt und übernachtet, da russisch-orthodoxen Glaubens, immer in speziellen Klöstern oder Pfarrhäusern, wie er mir in einem gebrochenen Mischmasch aus Englisch und Französisch erklärt. Über die Richtigkeit meines Weges kann er mir nur sagen, dass es dort ganz bestimmt zum Atlantik gehe. Dazu braucht man nicht schlau sein in St. Omer, wo in einem Winkel von knapp 120 Grad jede Richtung zum Atlantik weist.
In Wizernes kann man mir nur sagen, meine Richtung sei auf jeden Fall völlig falsch, wo es aber von hier aus nach Calais ginge, wisse man auch nicht. Wenn ich mir im Nachhinein die Karte ansehe, dann kann ich den Blödsinn wirklich nicht verstehen, den ich da zusammengefahren habe; jedenfalls fahre ich auf der Suche nach Querverbindungen und Schleichwegen noch bis an die Abzweigung Pihem weiter, mampfe dort bei schwindender Sonne frustriert zwei, drei Bananen und mache mich auf den Weg zurück. Stelle zwischendurch fest, dass ich mir durch einen Fehler beim Packen ein kleines Loch in den Anhänger geschliffen habe, biege hinter dem Flughafen nach Longuenesse ab und schlage einen neuen, unnötigen Haken Richtung Tatinghem. Vor Tatinghem sehe ich im späten Abendlicht eine einzelne, dicke, regnende Wolke direkt auf mich zuziehen, und als ich mich im Ort vor dem Fenster eines kleinen Einrichtungshauses untergestellt habe, fängt es an, heftig zu schütten. Um nichts abzukriegen, drücke ich mich in den Fensterrahmen und lehne gegen eines der Schaufenster - und vespere ein zweites Mal, diesmal aber richtig. Nach Ende des Regens ist es fast finster; ich habe meinen Ärger über mich selbst, d.h. meine blöde Verfahrerei "gefressen" und freue mich, in St. Martin au Laert nun endlich die Straße nach Calais gefunden zu haben. Eine "alte Bekannte" übrigens, nämlich die N43, die ich von Briey bis Cambrai kaum verlassen habe.
St. Martin au Laert -> Tilques -> Moulle -> Nordausques -> Ardres -> Bois-en-Ardres -> les Attaques -> Calais -> Calais Fährhafen.
Nun ist Nachtfahrt angesagt, und obwohl der Wind mich schon ziemlich angestrengt hat, bringt mich die Erwartung, endlich Calais zu erreichen, nochmals zu einem Leistungsmaximum, und ich halte in meiner Fahrttrance stets nach der Lichtglocke von Calais oder gar nach Leuchttürmen Ausschau. Außerdem strecke ich die Nase in den Wind, um den Augenblick nicht zu verpassen, von dem an man das Meer riechen kann; ich werde ganz besessen von dem Gedanken, aber der ersehnte, salzig-würzige Geruch bleibt äußerst schwach und stellt sich, wenn überhaupt merklich, so doch nur ganz allmählich ein und lässt sich nicht auf einen festen Ort oder Zeitpunkt datieren.
Die Erwartung, nun endlich am Meer anzukommen, lässt von den vorbeifetzenden Ortschaften meistens nur eine Handvoll Straßenkneipen und ein paar seltsame, ohne erkennbaren Grund angelegte Kreisverkehre in der Erinnerung hängen, während die vielen Hinweisschilder auf Eurotunnel-Anbindungen und die Werbeplakate der Fährgesellschaften meiner ohnehin hohen Motivation noch einmal kräftig nachhelfen. Um Ardres spielt der immer wieder kurz einsetzende Regen Katz' und Maus mit mir: Regenklamotten an, Regenklamotten aus usw.
Als ich schließlich das Ortseingangsschild von Calais erreicht habe, bin ich stolz wie Oscar. Da alle ausgeschilderten Zufahrten zum Fährhafen über autobahnähnliche Straßen verlaufen, radle ich gemütlich - sozusagen als Lockerungsübung - in diese nachts offenbar völlig tote Stadt und fühle mich dabei umso lebendiger. Schließlich finde ich die ausgeschilderte "Nicht-Autobahn" zum Fährhafen, eine holperige, pfützenreiche Straße, entlang des Canal de Calais und dann an Industriegebieten vorbeiführend. Schließlich wird an einem riesigen Kreisverkehr der Blick auf die grell angestrahlten Autoabfertigungsanlagen des Fährhafens frei, und ich muss einen Moment stehen bleiben und hinsehen, um zu glauben, dass ich tatsächlich da bin. Erschöpfung steigt in mir hoch, der nun sturmstarke Seewind kommt mir frontal entgegen, und ich brauche drei Versuche, um mit meinem Fahrradgespann auf kleinstem Gang wieder anzufahren.
23:41 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit: Ich betrete das Informationsbüro der Stena Line und frage neckisch, was denn ein Fahrrad mit Anhänger so koste: "...un vélo avec une remorque?" Das freundliche Gesicht der Angestellten verfinstert sich zu völliger Ratlosigkeit. Wildes Getippe auf verschiedenen Computern. Achselzucken: Der Computer lehnt die Anfrage immerzu mit dem Hinweis ab, ein Anhänger müsse verpflichtendermaßen an ein motorisiertes Fahrzeug angekuppelt sein. Kollegen werden hinzugezogen, und es folgt eine Telefonaktion, die vermutlich die Fährhäfen zu beiden Seiten des Kanals umfasst. Höchstwahrscheinlich gehöre ich zu den ersten, die mit Fahrrad und Anhänger auf die Fähre wollen. Da sich keine neue Preiskategorie für mich auftut und da Fahrräder in Verbindung mit Fußgängertickets gratis mitdürfen, habe ich schließlich das Glück, mit meinem ganzen Krempel als Piéton / Pedestrian / Fußgänger für lächerliche FF 9.- (neun Francs!) nach Großbritannien übersetzen zu dürfen. Das im Preis enthaltene Rückfahrtticket ("Minitour, 2 Tage") kann ich getrost verfallen lassen.
Da die Fähre erst um 0:45 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit ablegt, verstaue ich noch endgültig meine Frankreich-Karten und fahre dann kurz nach Mitternacht durch Wind und Nieselregen über einen flugfeldgroßen, zu dieser Zeit völlig verlassenen Wartebereich zum Check-In, wo mich eine telefonisch informierte Hafenangestellte wissend angrinst, mir einen gelben Zettel "Follow P6" auf die Lenkertasche klebt und mich dann zum Anlegekai-Bereich weiterschickt, wo mich neongelbe Kapuzenmänner weiterwinken und mich schließlich vor der Fähre anhalten, um eine Lkw-Kolonne passieren zu lassen.
Auf dem Fahrzeugdeck der Fähre bietet sich schließlich der skurrile Anblick eines Fahrradgespanns vor einer langen Reihe von Sattelzügen. Um die Sicherheit zu gewährleisten, schiebt ein Deckwächter augenzwinkernd einen Bremskeil unter ein Rad meines Anhängers - wie bei den übrigen Sattelzügen auch.
Schwere See. Ich bin eine Weile auf Deck, um vor Erschöpfung nicht einzuschlafen. Und um der deutschen Sprache ein wenig zu entgehen. Der HSV hat ein Auswärtsspiel in Großbritannien, und die paar wild gekleideten Hamburger Fans an Bord beschweren sich, jetzt seien sie mal ausnahmsweise nicht besoffen und könnten trotzdem nicht gerade stehen. Im Duty-Free-Shop kann ich mich noch für keinen der Straßenatlanten erwärmen und entscheide mich, zu Tagesanbruch in Dover unter eventuell größerem Angebot auszuwählen. Alle Atlanten haben Schwächen im Bereich Höhenangaben und Steigungen. Als ich mich später in eine Polsterbank fallen lasse, muss ich mich sehr zusammenreißen, mich nicht von der See in den Schlaf wiegen zu lassen. Ich muss schließlich noch wach und konzentriert genug sein, um nachher den Fährhafen von Dover verlassen und mir einen Schlafplatz suchen zu können - womit ich auf der Insel noch überhaupt keine Erfahrungen habe.
Zurück im Fahrzeugdeck, kurz vor dem Anlegen. Die HSV-Fans gruppieren sich bei ihrem Kleinbus, als mich ein englischer Lieferwagenfahrer zu sich winkt, um sich über meine Herkunft und mein Ziel zu erkundigen. Er ist so beeindruckt und begeistert, dass ihn keine Kraft der Welt davon abbringen kann, mir seinen Autoatlas zu schenken. "Many Thanks!!" Nein, meine weitere Route hätte ich noch nicht festgelegt, ich wolle aber London großräumig umfahren, wahrscheinlich südlich. Er empfiehlt mir, durch London zu fahren und dann stur der nach Nordwales führenden A5 bis zu meinem Zielort Bangor zu folgen. Aber "...through Central London??" - "Yes, why not?" Ich erwidere, ich würde mir das noch gut überlegen, ob ich mit soo einem bepackten Tretfahrzeug mitten durch London fahre. "You will", sagt er halb prophetisch, halb beschwörend, und je mehr ich die britische Straßenführung im Atlas in Augenschein nehme, desto stärker leuchtet mir diese Empfehlung ein. Die Route macht Sinn, sie ist über weite Strecken pfeilgerade und weicht den großen Agglomerationen aus, abgesehen eben von der größten.
Der schwere Seegang vermasselt das laut Fahrplan vorgesehene Paradox, aufgrund des Zeitzonenwechsels vor der eigenen Abfahrt anzukommen. Als ich um etwa 1:10 Uhr britischer Sommerzeit als erster die Fähre verlasse, werde ich sofort vom Hafenpersonal beiseite gewunken. Man hat im Hafenbereich nämlich extra für Radfahrer eine grüne (oder blaue?) Follow-Me-Line aufgezeichnet, um ihnen das Linksfahren beizubringen, und angesichts dessen, wie müde ich nun bin, werde ich später rückblickend sagen: "It was bloody necessary!!" Zweimal muss ich anhalten, da sich in mir so ziemlich alles sträubt, diesen Seitenwechsel mitzumachen.
Dover Fährhafen -> Schafplatz an der A2 bei Dover.
Die Freude, endlich auf der Insel zu sein, lässt mich meine tiefe Erschöpfung noch einmal für eine Weile vergessen, ich lasse die Lkws passieren und befahre die A2 Richtung Canterbury, die für eine vierspurig ausgebaute Schnellstraße (dual carriageway) vergleichsweise steil ansteigt, um das eigentliche Festlandniveau oberhalb der Klippen zu erreichen. Dummerweise ist aufgrund von Bauarbeiten die äußere Spur abgesperrt, und schon bald hängt eine Schlange von Sattelschleppern von der nächsten Fähre hinter mir, während ich mit Mühe und Not 10 km/h halten kann. Give up, das kann ich niemandem zumuten! Ich fahre hinter die Hütchen in den Baustellenbereich, halte an und verschnaufe; und gleichzeitig beschließen meine Beine, keinesfalls auch nur noch einen Meter weiterzufahren, ohne nach dem nächstbesten Schlafplatz auszuschauen. Na bestens: In einer Baustelle vermutet einen niemand! Das noch junge Gestrüpp an der vor nicht allzu langer Zeit angelegten, ansteigenden Böschung böte zwar tagsüber keinerlei Sichtschutz, ich schaffe es jedoch in einer letzten Kraftaktion, das Rad aus dem Einfallsbereich der Autoscheinwerfer zwischen die Sträucher zu wuchten, hole die Fahne am Anhänger ein, decke die Reflektoren ab, schreibe die Tageskilometerdaten auf, werfe mich in den Schlafsack und schlafe den Schlaf der Gerechten. Immerhin ist es 2:00 Uhr britischer Sommerzeit, in Frankreich wäre es jetzt 3:00 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, d.h. ich bin seit knapp 21 Stunden auf den Beinen und im Sattel!
Bangor, Herbst / Winter 1996; Tübingen-Bühl, August 2005 und Juni 2006 - Peter Liehr