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Reisen und Persönliches - Peter unterwegs

Dienstag, 10.09.1996

Elf Tage Landstraße

Siebenter Tag

Fahrtstreckendaten
Nettofahrzeit 4 Stunden, 57 Minuten, 20 Sekunden
Gesamtstrecke 924,9 km
Höchstgeschwindigkeit 58,8 km/h
Durchschnittsgeschwindigkeit 18,5 km/h
Tagesstrecke 79,93 km

Mein erster Tag in Großbritannien...

...hat zwar längst begonnen, als ich mich um 6:30 Uhr britischer Sommerzeit nach viereinhalb Stunden Schlaf aus dem Schafsack schäle, um "abzuhauen", da mich das frühe Tageslicht nun doch zu sichtbar macht, aber das Erlebnis, einen Teil Englands per Rad zu durchqueren, beginnt erst jetzt richtig, als ich das Rad aus dem Gestrüpp herunter auf die abgesperrte Fahrbahn hole und im Baustellenbereich weiterradle (6:45 Uhr britischer Sommerzeit). Noch vor Baustellenende kommt - Oh Schreck! - ein Kreisverkehr auf mich zu. Links fahren ist grausam; und als ob das nicht schon genug wäre, muss ich nun einen roundabout im Uhrzeigersinn befahren. Das ist wie - wie linksdrehende Gemüsesuppe gegen den Strich gerührt, kurzum: schrecklich! Leichter Nieselregen setzt ein, als ich mitten auf dem abgesperrten Kreisverkehr bei zwei jungen Männern zum small talk pausiere, die gerade ein paar Brieftauben aus ihrem Kofferraum in den fahlgrauen Himmel schicken.

Schafplatz an der A2 bei Dover, Weiterfahrt auf der A2 -> Whitfield -> Abzweig Geddinge (lange Pause) -> vorbei an Canterbury -> Faversham -> Sittingbourne (lange Pause) -> Gillingham -> Chatham -> Rochester (Schnellimbiss) -> Chalk bei Gravesend -> Schlafplatz östlich von Chalk.

In der Zufahrt zu einem abgeernteten Acker neben der Abzweigung nach Geddinge mache ich Frühstückspause. Bei der Kartenlektüre danach übermannt mich der Schlaf noch einmal fast eine Stunde lang. Wieder aufgewacht treffe ich dann endgültig die Entscheidung, durch Central London und weiter auf der A5 nach Wales zu fahren, wie es mir auf der Fähre empfohlen wurde. Der Himmel klart auf und weiter geht's. Ich habe noch etwas "Pudding in den Muskeln", aber nicht mangels Training. Es ist eben noch sehr unangenehm, rechts von Bussen und Schwerverkehr überholt zu werden. Außerdem ist mein Anhänger wegen der seitlichen Kupplungstechnik asymmetrisch, und ich muss nun immer einen bestimmten Abstand zum Straßenrand einkalkulieren, um das linke Anhängerrad nicht am Bordstein entlang zu schleifen. Etwas viel für den Anfang, aber schon bald komme ich auf die hilfreiche Idee, die "Aufgaben" meiner beiden Rückspiegel aufzuteilen: Mit dem rechten beobachte ich weiterhin den überholenden Verkehr, während ich den linken exakt auf eben jenes Anhängerrad einstelle, um mir somit ein besseres Gefühl für die eigene Fahrzeugbreite anzueignen, womit ich als Nicht-Autofahrer in keiner Weise vertraut bin.

Ich verzichte darauf, Canterbury zu durchfahren, da ich, obwohl heute wenig fit, möglichst nahe an London herankommen will, um den ganzen morgigen Tag zu seiner Durchquerung zur Verfügung zu haben. Auf dem wie eine Autobahn ausgebauten dual carriageway auf Faversham zu stelle ich fest, dass mein Anhänger exakt zwischen die hierzulande den Straßenrand markierenden Reflektorhuppel und den Bordstein bzw. die Grasnarbe passt. Ein sehr gutes Geradeausfahr-Training, ich brauche also die eigentliche Fahrspur gar nicht benutzen. Erstaunlich, ich werde auf dieser Art von Straßen tatsächlich geduldet, keines der vorbeifahrenden Polizeiautos schert sich um mich.

Faversham ist der erste englische Ort, den ich halbwegs durchfahre. Hier ist die A2 nicht mehr Autobahnanbindung, sondern normale Landstraße. Die kleinen Reihenhäuser mit ihren nach außen gekröpften Wohnzimmerfenstern sind mir noch neu - aber nicht mehr lange.

Dieselruß, Verkehr und enge Straßen: Stress!

Nachmittag. Vor Sittingbourne wird der Verkehr dicht. Die Straße hat eine geringe Spurbreite, der Abstand zu den überholenden Autos ist stets sehr gering, es gibt massenhaft schlecht eingestellte Dieselfahrzeuge und der Katalysator scheint hier noch keine weite Verbreitung gefunden zu haben. Mit anderen Worten: Die Autos stinken, und das Radfahren ist stressig. Ein größerer Kombi verursacht fast so viele Abgase, wie ich sie sonst von einem Omnibus abbekomme. Luft anhalten hilft nicht, man wird zwangsweise zum "Raucher". Da ich mich bei alledem bemühe, durch halbwegs hohes Tempo den Verkehr wenig zu behindern, ist noch in Sittingbourne bei mir "der Ofen aus". Ich kann nicht mehr; und an dem Buckel nach der Baustelle von einer Kolonne schwarz qualmender Lkws überholt zu werden, nein, das wäre jetzt zu viel für mich. Also biege ich an dem in Bau befindlichen Verkehrsknotenpunkt in die falsche Richtung ab und suche mir einen halbwegs "ruhigen" Platz neben der Einfahrt zu einem Umspannwerk. Als ich das Rad abstelle, merke ich erst, wie kaputt ich eigentlich bin. Ich werfe mich auf das spärliche Gras und schlafe fast eineinhalb Stunden lang, während keine hundert Meter weiter Bagger und Muldenkipper rangieren. Um 14:15 Uhr britischer Sommerzeit schüttle ich mich wach und fahre mich wieder einigermaßen fit.

In Gillingham mache ich mich durch Reisechecks mit der Währung, durch kurzes Bummeln mit den Läden und Schaufensterauslagen sowie durch das Unterrichtsende einer Schule um die Ecke mit den hier üblichen Schuluniformen vertraut. Lauter fein herausgeputzte Kinder; einige hindert dieses Outfit jedoch nicht, sich beispielsweise eine alte, "abgenudelte", riesige Tennistasche über die Schulter zu werfen, mit Löchern, Rissen und Flecken. Der Kontrast wirkt fast absurd. Nachdem ich Rochester mit ein paar Pommes Frites im Bauch auf der A226 verlasse, fängt es auch schon zu dämmern an, und es wird Zeit, einen Schlafplatz zu suchen. Ich schaue mir in Chalk, einem Ortsteil am Ostrand von Gravesend, die Struktur eines hiesigen Neubaugebietes an - einer Neighbourhood Watch Area, wie Schilder an den mit Alarmanlagen gespickten Häusern angstvoll-warnend versichern - und frage jemanden, ob es möglicherweise einen Bauernhof in der Nähe gäbe, bei dem ich um die Möglichkeit bitten könnte, mein Zelt aufzustellen. Der Farmer, zu dem ich so gelange, weist mich ab und schickt mich wiederum zu einem Bauernhof, der gar nicht existiert...

Abendstimmung an der Themsemündung

Aber: Ein Gürtel dichten Gestrüpps trennt die kleine Landstraße von den abgeernteten Feldern und verheißt ideale Schlafplätze. Nach wenigen hundert Metern bietet eine Feldzufahrt die Gelegenheit, auf die andere Seite der Büsche zu kommen, wo ich bald darauf einen meiner bisher schönsten Schlafplätze finde. Obwohl gut versteckt, habe ich einen erstklassigen Panoramablick über die Themsemündung zwischen Tibury und Stanford le Hope. Auf der Straße hinter mir ist kein Verkehr mehr, und vor mir erzeugen die vereinzelt herangewehten Fahrgeräusche entfernter Vorstadtzüge und dahinter die Hörner ein- und auslaufender Schiffe, die sich in der Weite der Themselandschaft verlieren, eine ganz eigene, feierlich-melancholische Stimmung. Es wird langsam finster, und die kleinen Lichter über den fernen Industrieanlagen jenseits der Themse verstärken zusammen mit dem weit über die leeren Felder scheinenden Flutlicht eines diesseitigen Sportplatzes den eigenwilligen Eindruck, den ein großes, leeres Stück Flachland am Rande einer Weltmetropole auszulösen vermag. Es ist erst 21:50 Uhr britischer Sommerzeit, als ich im Schlafsack verschwinde.

Fazit zu Tagesende

Meine Streckenleistung ist heute erstmals mit "laschen" 79.93 km unter der 100-km-Grenze geblieben, aber ich konnte mir nicht erlauben, in einer Nachtfahrt in den Vorstadtgürtel Londons vorzudringen. Zudem haben der gestrige Kampf gegen den Wind in Frankreich, der kurze Schlaf und die hohe Abgasbelastung heute meiner Fitness einen Strich durch die Rechnung gemacht. Erlebnisse und die Umstellung auf Linksverkehr taten ein Übriges.

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Bangor, Herbst / Winter 1996; Tübingen-Bühl, August 2005 und Juni 2006 - Peter Liehr

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