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Reisen und Persönliches - Peter unterwegs

Sonntag, 15.09.1996

Elf Tage Landstraße

Nach der Tour

Als ich aufwache, ist es längst hell, feuchtkalt und etwas neblig. Normalerweise würde ich jetzt eiligst packen und mich aufs Rad schwingen, das einzige Gewohnte ist jedoch, dass ich den Schlafsack zum Lüften übers Rad hänge und frühstücke. Konsequenz: Ich bin völlig zappelig. Und meine ausgeflippte Stimmung von der Ankunft gestern ist auch noch nicht verflogen. Ich darf heute faul sein, was mach' ich bloß? Die Frage beantwortet sich in Gestalt einer alten Frau, die ihren Wohnwagen mit einer Tasse heißen Tees verlässt und meint, sie hätte mich jetzt schon eine Weile beobachtet. Ich müsse doch unheimlich frieren, so ganz ohne Zelt. Keineswegs, aber trotzdem vielen Dank für den Tee!

Ich sortiere meine Landkarten, und bald öffnet sich die Wohnwagentür erneut. Ihr Mann sei jetzt wach, meint die Frau, und außerdem könne sie mir nicht länger zusehen, so allein in der Kälte. (Ich fühle mich eigentlich pudelwohl.) Wenig später sitzen wir zu dritt zusammen im Wohnwagen und unterhalten uns. Ich werde einige Reiseerlebnisse los und erhalte eine erste Beurteilung meiner Art zu reisen: "Masochism! Self-inflicted masochism!" behauptet der Mann aus Chester mit einem Unterton des Erstaunens. Einverstanden, das kann man so sehen; dann bin ich also heute ein glücklicher, fröhlicher Masochist. Über die Themen Umweltverschmutzung und Architektur kommen wir zur Literatur und zu seinem Lieblingspoeten John Betjeman. Als sich herausstellt, dass ich den kenne, habe ich, eh' ich's fassen kann, eine Ausgabe seiner Uncollected Poems in der Hand, mitsamt Widmung. "Thanks a lot!!" So vergeht der Vormittag im Gespräch.

"Welcome Week" an der Universität Bangor

Nach dem Duschen am Nachmittag verlasse ich den Campingplatz und fahre mit meinem ganzen Gepäck zur Undeb Myfyrwyr bzw. Students' Union der Universität, wo die eigentlich erst morgen beginnende Welcome Week schon halbwegs angelaufen ist. Die vielen studentischen Gruppen bereiten ihre Stände und Präsentationen vor. Ich besorge mir die Welcome-Week-Broschüre und bin überrascht durch die zahlreichen Initiativen und "have-a-go"-Schnupperkurse. Als sportliche Aktivitäten wird u.a. Radfahren, Bergwandern, Bergsteigen, Segelfliegen, Schwimmen und Meerestauchen angeboten, und zu den meisten gibt es kommende Woche have-a-go sessions.

Den Nachmittag verbringe ich großteils vor und im Students' Union Building, einem hässlichen Betonbau im Stil eines Bürogebäudekomplexes aus den 1970er Jahren. Innen recht praktisch aufgeteilt, beherbergt er so ziemlich alles, was das außeruniversitäre studentische Leben betrifft: Wohnungsvermittlung, welfare office, second hand bookshop, Reisebüro, Waschsalon, Duschgelegenheit, Kantine, eine Mischung aus pub und Disco, ein weiteres pub mit Billardtisch, Spielhölle, ein als Mensa, Disco und Konzerthalle benutzter Allzwecksaal, ein weiterer Saal mit Barausschank usw. Hier ist in der Welcome Week wie auch während des gesamten Semesters einiges los.

Da in Studentenwohnheimen mit Selbstverpflegung derzeit kein Platz mehr frei ist, mache ich mich gegen Abend zu dem Campingplatz auf, der mir heute früh auf dem caravans-only-Platz empfohlen worden ist und unmittelbar daneben liegt. Er ist ziemlich klein und gut versteckt hinter einer Farm gelegen. Es ist von dort näher zur Uni als von einigen Studentenwohnheimen. Bei Dunkelheit baue ich das Zelt auf und richte mich in weiser Voraussicht darin schon halbwegs zum Studieren ein. Danach geht's noch zurück zur Students' Union in die "Welcome Week Disco", und mein erster Tag in Bangor ist rum.

Die kommende Woche

...und die ersten paar Tage des Semesters wohne ich noch im Zelt und suche nach einer dauerhaften Unterkunft. Die meisten landlords und landladies wollen nur an Studierende vermieten, die mindestens ein Jahr bleiben, nicht nur ein Semester. Unter den nach Semesterbeginn verbleibenden Adressen, die noch keinen Mieter gefunden haben, rechne ich mir (zu Recht) gute Chancen auf eine größere Auswahl aus, da ich dann unabhängig von meiner Verweildauer genommen werde. Außerdem - vom Hörsaal ins Zelt heimzugehen ist wirklich eine interessante Abwechslung, die Urlaub und Studium nahtlos ineinander zerfließen lässt. Es wird zwar etwas stürmisch, aber das typische, peitschende, nasskalte Winterwetter von Bangor lässt noch eine Woche auf sich warten. Wie schon während der gesamten Radtour ist mir das Wetter außergewöhnlich wohlgesonnen.

Neben Kurswahl und umfangreicher Einschreibeprozedur mache ich diese Woche eine Busfahrt für ausländische Studierende durch Snowdonia und eine Schnuppertour mit dem studentischen Bergsteige-Club mit, stelle aber fest, dass Klettern und Abseilen eher nicht zu meinen Stärken gehören.

Mein Wohnsitz bis ins Frühjahr 1997

Als ich am Dienstag, den 24.09.1996 in der Caernarvon Road einziehe, habe ich mich fast schon zu sehr daran gewöhnt, beim Verlassen des Campingplatzes dem kleinen Kläffer davonzurasen, der sich partout weigert, mit mir Freundschaft zu schließen. Dafür steht mir am Mittwochabend eine neue Herausforderung bevor: Wie ich im Nachhinein erfahren werde, stürzt an diesem Tag mein Mitbewohner bei einer Hangabfahrt ziemlich übel vom Fahrrad und schürft sich reichlich Teer und Rollsplitt unter die Haut. Völlig verdattert schließt er abends die Haustür ab und vergisst mich. Und ich lerne daher eindrücklich, dass das Schloss des kleinen Reihenhauses, sofern von innen verriegelt, mit dem Schlüssel von außen nicht mehr zu öffnen ist. Es ist kurz vor Mitternacht und ich bin ausgesperrt. Aber: Hinter dem Haus steht ein altes, halb zerfallenes, sperrmüllreifes Sofa, und da ich als völliger Fremdling nicht mit Radau die gesamte Nachbarschaft argwöhnisch machen möchte, schlafe ich die Nacht über eben in Klamotten auf dem Sofa und somit ein letztes Mal unter freiem Himmel, bevor ich mich in Bangor "endgültig" einlebe.

In der Hoffnung, dass dieser Reisebericht nicht allzu langatmig ist, grüßt ein unmöglicher Radfahrer alle möglichen und unmöglichen Leserinnen und Leser.

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Bangor, Herbst / Winter 1996; Tübingen-Bühl, August 2005 und Juni 2006 - Peter Liehr

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