Fahrtstreckendaten | |
Nettofahrzeit | 6 Stunden, 14 Minuten, 52 Sekunden |
Gesamtstrecke | 1408,0 km |
Höchstgeschwindigkeit | 55,1 km/h |
Durchschnittsgeschwindigkeit | 20,3 km/h |
Tagesstrecke | 121,21 km |
Auf dem Weg neben der Campingwiese führt ein älterer Mann einen Hund Gassi. Das ist das erste, was ich nach dem Aufwachen durch die Fahrradspeichen hindurch sehe. Ich bin faul und drehe mich noch einmal knapp eine Stunde lang um, bis ich mich um 8:15 Uhr britischer Sommerzeit gähnend aus dem Schlafsack schäle. Hin und wieder bewegen sich Vorhänge in den wenigen umherstehenden Wohnwagen und Campingmobilen, ich werde offenbar seit einer Weile schon neugierig beäugt. Ausgiebiges Frühstück. Der Mann mit Hund kommt zurück und macht erstaunliche Verrenkungen mit den Pupillen, um mich auch mit geradeaus gerichtetem Kopf beobachten zu können. Nach dem Frühstück wird gepackt, dann rasiert und geduscht; ich nutze die sanitären Anlagen, um bei meiner jetzt absehbaren Ankunft in Bangor halbwegs zivilisiert die Uni zu erreichen.
Beim Bezahlen frage ich in der Rezeption nach der Entfernung nach Bangor, angeregt durch die zahlreich ausliegenden Touristenprospekte aus dem nunmehr nahen Wales. Die Tochter des Pächters muss dazu den Vater herbeirufen, der weiß aber auch nichts Genaueres, allerdings: Keine Chance, heute noch nach Bangor zu kommen. Wie weit ich denn so täglich fahre, will er wissen, nachdem er auch seine Neugier nach meiner Herkunft nicht mehr bremsen konnte. Ich denke an meine seit der Ankunft in Großbritannien nicht weiter gesteigerten Tagesstreckenleistungen und an das bergige Wales, um nichts Unrealistisches zu sagen, rechne ein wenig und sage schließlich: "80 miles", was etwa 130 Kilometern entspricht. Mit zunehmendem Nachdenken ist der Pächter sich seiner vorigen Aussage immer weniger sicher, er meint schließlich, ich könne es heute vielleicht noch schaffen. Man wünscht mir gute Fahrt, und die A5 hat mich wieder.
Campingplatz hinter Nescliffe -> West Felton -> vorbei an Oswestry. Dahinter taucht erstmals das Wort "Bangor" auf Wegweisertafeln auf! Ich kann meine Freude nicht verbergen. Nach der Talbrücke über den "Grenzfluss", den River Dee, verkündet ein zweisprachiges Schild unter anderem "Welcome to Wales!" und die etwas eintönige englische Hügellandschaft ist daraufhin endgültig vorbei. Bei -> Chirk wird der Schwerverkehr nach Bangor und Holyhead an die Küste umgeleitet, ich hingegen folge der A5 in die Bergregion Snowdonia. Vor -> Llangollen bietet sich ein car boot sale, ein Flohmarkt also, zu einer Stöberpause an, außerdem wird günstig Obst verkauft. Danach führt die Straße eng, kurvenreich und wirklich idyllisch am Hang entlang, und ich lasse den Blick über das gegenüberliegende Llantysilio-Massiv und die anderen Berge schweifen. Hier gibt es tatsächlich geschlossenen Wald, ein seit Frankreich ungewohnter Anblick.
Von Llangollen nach Glyndyfrdwy führt unterhalb der A5 eine der für Wales typischen kleinen Eisenbahnstrecken, auf denen noch Dampflokomotiven im Museumsbetrieb verkehren. Untypisch ist in ihrem Fall nur, dass es sich um eine Strecke mit normaler Spurweite und nicht etwa um eine Schmalspurbahn handelt. An einer Abzweigung auf einer Brücke über die Gleise stoße ich in einer Pause auf einen "Fotografiestudenten", der hier in Vorbereitung einer praktischen Arbeit zusammen mit seiner Freundin eine Großformat-Balgenkamera auf einem wuchtigen Stativ zusammensetzt und die Linse auf die Schienen richtet. Er und sie tragen Bundeswehrklamotten, was meine Vermutung aus früheren Beobachtungen bestärkt, dass hier gebrauchte deutsche Armeekleidung unter der jüngeren Bevölkerung recht beliebt ist, besonders, wenn die Namensschilder der Soldaten noch aufgenäht sind. Vor allem um lange und ausgefallene Namen und solche mit möglichst vielen "ä"-, "ö"- und "ü"-Lauten scheint man sich zu reißen. Auf der Feldjacke des Fotografen steht "Förste". Ich stelle mein mickriges Stativ neben seine Ausrüstung, wir kommen ins Gespräch und fotografieren zwei Züge. Danach weitere, anstrengende Bergfahrt nach -> Glyndyfrdwy, auf der mich die beiden Wegbekanntschaften auf einem Motorrad überholen. Ich frage mich nur, wie man da eine so sperrige Profi-Fotoausrüstung draufkriegt.
Die Ortsnamen verraten schon, dass in Wales eine andere als die englische Sprache beheimatet ist. Bei Verkehrszeichen und Straßennamen herrscht strikte Zweisprachigkeit, wobei der walisische Text meistens Priorität genießt. So ist hierzulande über das Wort "Slow" auch noch "Araf" auf die Straße gepinselt, und ein "bus stop" heißt primär "safle bws". An einem Warndreieck vor einer Baustelle lehnt ein wichtig wirkendes rotes Schild mit umfangreichem weißen Text. Der englischsprachige Teil ist allerdings mit Lehm und Straßendreck vollgespritzt, so dass ich mich bestens über die bevorstehende Gefahr informiert fühle, die dann offenbar unbemerkt an mir vorübergeht.
Glyndyfrdwy -> Corwen -> Druid -> Y Maerdy -> Ty-nant -> Cerrigydruidon -> Glasfryn -> Pentrefoelas -> Betws-y-Coed.
Bis Betws-y-Coed wechseln sich steile Berg- und Talfahrten durch Wald- und Heideland ab, hinter Pentrefoelas verdichtet sich der Wald, und eine äußerst lange Talfahrt nach Betws-y-Coed beginnt, das, mitten im Snowdonia Forest Park gelegen, als beliebter Ausgangspunkt für Bergwanderungen mit seinen belebten Touristenlokalen, Hotels und Souvenirshops ein gewisses "Rüdesheim-Flair" verströmt und von mir daher rasch durchfahren wird (wenn auch der Lieferwagenfahrer auf der Fähre mir diesen Ort besonders empfohlen hatte, als er mir den Autoatlas geschenkt hatte). Da es hinter Betws-y-Coed ebenso steil wieder bergauf geht wie zuvor bergab, lege ich noch eine Vesperpause ein. Ein Auto hält an, und der Fahrer fragt mich, ob es hier nach Bangor ginge. Ich will doch schwer hoffen.
Die Bergfahrt führt durch dichten Wald, und zu beiden Seiten der Straße schlängelt sich je eine kleine Schiefermauer mit bergauf. Schon seit Llangollen sind mir die zahlreichen Schiefer- und sonstigen Steinmauern zwischen Viehweiden oder am Straßenrand zum Schutz vor dem Abgrund aufgefallen, die hiesige kann ich mir jedoch nicht erklären. Um das Wild von der Straße fernzuhalten wäre ein Zaun viel einfacher aufzustellen gewesen. Der Anblick ist allerdings umwerfend: Eine gewundene Straße im Wald zwischen zwei bläulichen Schiefermauern ist unglaublich malerisch und todschick. Und Schiefer gibt es hier reichlich. Der bei Llanberis nahe dem Berg Snowdon abgebaute Welsh slate ist von hervorragender Qualität, und man wäre schön dumm, sein Haus hier mit Dachpfannen zu decken.
Als ich, oben angekommen, den Wald verlasse und im Weiler -> Capel Curig (ein paar Häuser an einer Abzweigung) vor einem outdoor equipment shop verschnaufe, erwartet mich ein langes, weit offenes, grünes Tal mit hohen, bizarren Felsformationen linker Hand, die sich in der Abendsonne besonders eindrucksvoll präsentieren. Das einzige, was in dieser herb-schönen, kargen Landschaft gedeiht, sind Gräser und Büsche. Und demzufolge Schafe. Schafe, so weit das Auge reicht. Bei manchen, von Felsen umgebenen, höher gelegenen Wiesenflecken fragt man sich, wie sie dort eigentlich hochgekommen sind. Schon zwischen Llangollen und Betws-y-Coed war der Schafanteil sehr hoch, hier sind sie einfach nicht zu übersehen. Angeblich kommen in Wales auf einen Einwohner fünf Schafe. Määäh!!
Das hoch gelegene, nicht besonders tiefe, weit offene Tal führt, vorbei an einigen Zeltplätzen, auf den Llyn Ogwen zu, einen ebenso hoch gelegenen kleinen See am Fuße des Y Tryfan (917 m), der durch seine bizarren, schräg aufgeworfenen Gesteinsschichten beeindruckt. Die Berge sind hier eigentlich alle nicht übermäßig riesig, selbst der Snowdon, zweithöchster Berg Großbritanniens, misst nur 1085 m. Dadurch aber, dass hier kein zentraleuropäisches Mittelgebirgsniveau als "Referenzlandschaft" dienen kann, sondern die irische See in unmittelbarer Nähe liegt, dadurch erhält man beträchtliche Höhendifferenzen. Auch vor plötzlichen Wetterwechseln wie Kältestürzen und peitschenden Regen- und Schneeschauern wird hier gewarnt, momentan liegt jedoch eine friedliche Bergkulisse links vor und neben mir, als ich am Höhensee Llyn Ogwen entlangradle. Die Sonne ist soeben untergegangen.
Direkt hinter dem Llyn Ogwen tut sich nach einer Rechtskurve ein Abgrund auf. Ein tiefes, breites, U-förmiges Muldental beginnt hier und erstreckt sich auf Bethesda zu. Von nun an geht es nur noch bergab, ich mache jedoch - überwältigt, wie ich bin - langsam, um den atemberaubenden Blick in die Tiefe zu genießen; von der rechten Talseite aus, an der entlang die Straße abwärts nach -> Bethesda führt. In Bethesda kaufe ich um 19:40 Uhr britischer Sommerzeit noch einmal ein und vespere eine Kleinigkeit, bevor ich mich weiter talwärts in die Dunkelheit rollen lasse. Ich bin in Hochstimmung, bis Bangor ist es nur noch ein Katzensprung (6 km).
In Bangor fahre ich zunächst bei Ebbe am Ufer entlang und auf den Bootshafen zu, bis die Straße nach links und in den Universitätsbereich abbiegt. Als ich das erste Uni-Gebäude entdecke, hält mich nichts mehr: Ich reiße die Kamera aus der Tasche, lege sie auf eine Mauer an der gegenüberliegenden Straßenseite und schieße eines meiner sicherlich schlechtesten Fotos, allerdings mit eingeblendeter Kilometerzahl. Ich bin furchtbar stolz und kann's noch immer nicht fassen:
Weilheim-Bangor. 1 400 Kilometer in elf Tagen! Mit über 150 kg Gesamtgewicht!!
Außer mir vor Freude fahre ich die gewundene Straße nach Upper Bangor und sehe mich um: Ein paar Buchläden, ein Pizza Takeaway, Fish & Chips. Upper Bangor wirkt (zumindest seiner Hauptstraße entlang) wie ein etwas größerer, gemütlicher ländlicher Ort, keinesfalls wie eine Universitätsstadt. Landschaft und Lage nach zu beurteilen - soweit das bei Dunkelheit möglich ist: Hier kann ich mich wohlfühlen. Ich bin völlig besessen von meinem Fahrerfolg, weiß noch gar nicht, was ich jetzt eigentlich machen soll, und fahre die Straße noch einmal hinunter zum Bahnhof und dann wieder hinauf. Ich bin da, ja, ich bin wirklich da!! Dabei fühle ich mich, als könnte ich jetzt noch knapp 30 Kilometer fahren.
"O.K. calm down!" Als ich mich etwas ausgesponnen habe, frage ich in dem Off License Shop nach einer Möglichkeit zum Zelten und werde in Richtung Menai Bridge zu einem Campingplatz direkt hinter der Stadt verwiesen. Im Haus des Platzwartes brennt noch Licht, ein Hund kläfft ihn herbei. Da er aber nur eine Lizenz für Wohnwagen, nicht aber für Zelte hat, muss ich einen Moment betteln, bis er mir zuliebe eine Ausnahme for one night only macht. Sternklarer Himmel, es wird leicht frostig. Trotzdem stelle ich das Zelt nicht auf - und verursache somit wohl lizenzrechtlich auch keine Probleme.
Bangor, Herbst / Winter 1996; Tübingen-Bühl, August 2005 und Juni 2006 - Peter Liehr