Fahrtstreckendaten | |
Nettofahrzeit | 6 Stunden, 24 Minuten, 14 Sekunden |
Gesamtstrecke | 1284,8 km |
Höchstgeschwindigkeit | 50,6 km/h |
Durchschnittsgeschwindigkeit | 20,0 km/h |
Tagesstrecke | 120,05 km |
Um vor möglicherweise auf dem Gelände eintreffenden Arbeitern (Kieshaufen) oder Bauern (Stroh) weg zu sein, lasse ich mich um 7:15 Uhr britischer Sommerzeit vom Wecker aufscheuchen und bin um 7:45 Uhr britischer Sommerzeit schon wieder auf der Straße. Erste Feststellung: "Hallo, Gegenwind!" Ja, er kommt noch immer von vorne, auch wenn es jetzt stärker nach Westen geht als nach Norden.
Schlafplatz hinter Atherstone -> Tamworth. Ich fahre in das seltsame, modernistisch-futuristisch anmutende Einkaufs- und Gewerbegebiet, weil ich etwas zu "beißen" brauche; muss mich aber in der etwas eigenartigen "Markthalle" mit weichem, gehaltlosem Weißbrot abfinden. Dazu Cheddar Cheese. Keine Chance, im angrenzenden Einkaufszentrum nach Alternativen zu suchen, ich traue mich nicht, das Fahrrad länger unbeaufsichtigt stehen zu lassen, das mir kurzfristig ein AA-Vertreter bewacht, der mit einem kleinen Stand für seinen Automobilclub wirbt. Jetzt erst einmal ein ausgedehntes, gehaltloses zweites Frühstück - hoppla, der Wind weht mir noch alles weg.
Etwas umständlich finde ich die A5 wieder, nach -> Brownhills stürze ich mich in einer Art Autobahnraststätte hinter -> Cannock auf eine Portion Pommes (10:50 Uhr britischer Sommerzeit), hinterlasse etwas verdutzte Gesichter und überquere kurz darauf einen der vielen schmalen, von länglichen Schiffchen befahrenen Kanäle, von denen ich bislang noch keine Ahnung hatte. Sie mögen einst als Transportwege zur Industrialisierung beigetragen haben, werden aber heutzutage, offensichtlich liebevoll gepflegt, vorwiegend von diesen seltsamen, zigarrenschlanken "Hausbooten" befahren. Freizeitvergnügen für Erholungssuchende. Hinter -> Gailey wird die A5 dank der nahen M54 zur kleinen, wenig befahrenen Landstraße, was sich erholsam auswirkt, obwohl der Großraum Birmingham - Wolverhampton, den ich seit Tamworth bis etwa hier nördlicherseits passiere, den A5-Verkehr nicht weiter verdichtet hat.
Die Aufschrift verrät, dass es sich bei der wuchtigen, zu unterquerenden Stahlbrücke um ein Aquädukt handelt, über das wieder so ein eigenartiger, schmaler Kanal führt: der Shropshire Union Canal. Foto- und Verschnaufpause. Mensch, hab' ich einen Durst! Und die Wasservorräte sind aufgebraucht. Dabei bin ich inzwischen so dehydriert wie noch nie, und der Durst schmerzt. Gemeinerweise liegt der Getränkeladen, den ich passiere, an der anderen Straßenseite, und die nicht enden wollende Kolonne des Gegenverkehrs sowie des überholenden Verkehrs lassen mich - nach kurzem Ringen mit mir selbst - eine Überquerung der Straße als aussichtslos verwerfen. In -> Weston-under-Lizard lege ich mich auf dem penibel gemähten Grünstreifen am Rande einer Zufahrt zum Weston Park eine Dreiviertelstunde schlafen, man könnte es bei dem heutigen Wetter auch Sonnenbaden nennen.
Als ich, noch unverdurstet, endlich nach -> Telford komme, geht's schnurstracks in den nächstbesten Supermarkt (16:15 Uhr britischer Sommerzeit). Die Frau am Käse-Probierstand vor der Tür "darf" geschwind mein Rad bewachen, bis ich mit O-Saft, Limonade, Bananen, Apfelsinen und Tomaten wieder rauskomme.
"Uff, volltanken! Oah, tut das gut!!" Als ich danach, eher zufällig und mit Glück auf die richtige Straße gestoßen, hinter dem -> Stadtteil Wellington Telford verlasse, zwingen mich Erschöpfung und Gegenwind wieder einmal in die Knie. Die auf einem abgeernteten Feld verstreuten großen Strohquader bieten sich als "Liegeplatz" an, und ich beobachte dösend die Drachenflieger am The-Wrekin-Massiv gegen die schon tief stehende Sonne.
"Jetzt aber weiter, ich möchte gar nicht wissen, wie lange ich hier wieder rumgelegen bin!" Der Wind ist gnadenlos wie immer, dafür geht es, oh Wunder, auch einmal bergab. Ich bleibe der A5 fern und fahre durch das abendliche -> Shrewsbury, mangels Stadtplan bin ich, der Beschilderung folgend, jedoch schneller wieder draußen, als es mir lieb ist, und auf meiner altgewohnten Fernstraße, die die Stadt vierspurig umrundet.
Es dunkelt, und nach einer Abzweigung Richtung Mid-Wales (Aberystwyth) wird die A5 zu einer kleinen, hügeligen Straße, die besonders in ein paar winzigen Ortschaften einige zuvor ungewohnte Haken schlägt. In einem dieser Weiler werde ich auch glatt in einer spitzen Kurve so riskant und schnell überholt, dass ich mich hinterher freue, mit dem Leben davongekommen zu sein. Wäre in dem Moment überraschend Gegenverkehr um die Häuserecke gekommen, so hätte der Überholende es mit Sicherheit einer Frontalkollision vorgezogen, mich "plattzumachen". Ich denke an den ähnlichen, fast ebenso gefährlichen Vorfall vor Estrée-Blanche in Nordfrankreich zurück, werde zittrig und komme total aus meinem Rythmus. Der Schreck macht mir zu schaffen. Man mag noch so begeisterter Fahrradtourist sein und sich von keiner Erschöpfung so schnell die Motivation rauben lassen - dies sind die Momente, in denen man den Drahtesel hinschmeißen und (heulend) davonrennen möchte. Momente, die früher oder später leider jedem unterlaufen und einen vor die schmerzhafte Entscheidung stellen, ob man weiterhin das mit dieser Art zu reisen verbundene Risiko zu tragen bereit ist, möglicherweise einmal nicht mehr nach Hause zurückzukommen, oder keine ausführlichen Reiseberichte mehr schreiben zu können. Irritiert und unausgeglichen setze ich meine Nachtfahrt fort.
Als ich hinter -> Ensdon den Schreck verwunden habe, lässt ein weiterer nicht lange auf sich warten, diesmal stammt er aber eher aus dem komischen als aus dem tragischen Register: Die Erschöpfung übermannt mich, ich fahre auf einen holperig-lehmigen Feldweg, der unterhalb der Böschung der A5 entlangführt, und lege mich, da ich die Gegend für einen permanenten Schlafplatz als ungeeignet erachte, neben die kleine Hecke an der Böschung ohne Schlafsack und Luftmatratze ins spärliche Gras, um eine Weile zu schlafen. "Waaaahh!!!" Ein leichter, aber "unüberfühlbarer" Tritt in die Magengrube (!) lässt mich mit einem Schrei aufschrecken. Kein Mensch weit und breit, dafür rennt ein Hase davon, der auf der Flucht vor dem Straßenverkehr über die Hecke gesprungen und direkt auf meinem Bauch gelandet ist, von wo aus er sich mit voller Kraft weiterkatapultiert hat. So brutal bin ich noch nie geweckt worden, aber immerhin: Sowohl Hase als auch ich, wir beide hatten heute Nacht schon ungeheuer Schwein. Nach ungewöhnlich kurzer Pause habe ich von dieser Stelle die Nase voll und fahre, ständig nach geeigneten Schlafplätzen umherschauend, weiter.
Hinter -> Nesscliffe, an der Abzweigung nach Knockin und Kinnerley verlockt mich die Hinweistafel auf einen Campingplatz, zum ersten und einzigen Mal während meiner Zeit unterwegs wie ein halbwegs zivilisierter Mensch zu übernachten. An der Rezeption ist niemand mehr, in einem der zwei, drei deutschen Wohnwagen und Campingbusse (von denen ich mich fernhalte) brennt noch Licht, und in einem Zelt am Zaun wird noch gekocht. Ansonsten Stille bei den übrigen Wohnwagen. Ich fahre hinter den "Kochenden" an den Zaun, suche für mein Fahrrad einen festen Stand, blase die Luftmatratze eher schlaff auf und werfe, zu erschöpft zum Zeltbau, die Zeltplane über das Fahrrad und verkrieche mich daneben unter ihr, um am kommenden Morgen nicht völlig offen möglichen Frühaufstehern mit Hunden ausgesetzt zu sein. Komisch, ich fühle mich auf einem Zeltplatz weit weniger sicher als auf einem selbst ausgewählten Schlafplatz in "freier Wildbahn".
Bangor, Herbst / Winter 1996; Tübingen-Bühl, August 2005 und Juni 2006 - Peter Liehr