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Reisen und Persönliches - Peter unterwegs

Donnerstag, 12.09.1996

Elf Tage Landstraße

Neunter Tag

Fahrtstreckendaten
Nettofahrzeit 7 Stunden, 47 Minuten, 2 Sekunden
Gesamtstrecke 1166,6 km
Höchstgeschwindigkeit 45,7 km/h
Durchschnittsgeschwindigkeit 18,0 km/h
Tagesstrecke 136,78 km

Rundfunk in London

Heute früh frühstücke ich ausgiebig und höre dabei einmal durch die im Großraum London zu empfangenden Radiosender, bevor ich das Zelt einpacke und um 9:50 Uhr britischer Sommerzeit in Richtung Redbourn aufbreche. Der heutige und morgige Tag sind nicht gerade durch häufige Landschaftswechsel gekennzeichnet: hügelige Feldlandschaft mit hohen Hecken- oder Baumgürteln, die die Felder gegeneinander abgrenzen und einen üppigen Lebensraum für Hasen und für diese mir unbekannte Art graubrauner Eichhörnchen bilden. Auf weiten Teilen meiner Strecke "begegnet" man mehr totgefahrenen Hasen als Verkehrsschildern, und Eichhörnchen kommen auch nicht selten unter die Räder.

Gegenwind, Abgase und viel Überwindung

Schlafplatz zwischen St. Albans und Redbourn -> Redbourn -> Dunstable, in -> Bletchley runter von der um Milton Keynes vierspurigen A5. Einkauf und ausgiebiges Vesper. Kurz darauf halte ich in -> Milton Keynes-Loughton nochmal zum Vespern und zum Gähnen an. Der unbarmherzige Gegenwind ermüdet nämlich nicht nur, sondern erzeugt auch einen ständigen Druck auf den Ohren. Angenehm fällt auf, dass es im gesamten Bereich von Milton Keynes für Radfahrer eine pfeilgerade durchführende Kombination von Nebenstraßen (am Rande eines Gewerbegebiets), verbunden durch Radwege, gibt. Nicht einmal an Unterführungen unter kreuzenden Hauptstraßen wurde gespart.

-> Stoney Stratford (Bankfiliale, Einlösung von Reisechecks), in -> Old Stratford zurück auf die ab hier nicht mehr vierspurige A5 -> Potterspury -> Plumpton End -> Towcester, an Daventry vorbei. Der kräftige, schräg entgegenkommende Nordwind verstärkt sich in der Ebene hinter -> Kilsby bei Rugby noch einmal, außerdem verdichtet sich in der Nähe der Anschlüsse zu den Autobahnen M1 und M45 der Verkehr und mit ihm die ohnehin schon extreme Abgasbelastung, die an Kondition und Konzentration (Kopfbrummen) nagt und mich zum Husten bringt. Die Fahrerei wird zäh, die Motivation schwindet, und nach den häufigen Ausruhpausen, deren Länge die dazwischen liegenden Fahrintervalle zunehmend überschreitet, brauche ich viel Überwindung, mich wieder auf den Sattel zu schwingen. Außerdem gemahnt mich eine meiner Achillesfersen durch ein unangenehmes Ziehen wieder einmal zu erhöhter Vorsicht: Ich möchte mir auf keinen Fall durch Überlastung eine Zerrung, Muskelfaserrisse oder sonst etwas dergleichen zuziehen.

Rundfunk in Shakespeare's Country

Also schaue ich mir gezwungenermaßen lange und ausgiebig die, so weit das Auge reicht, mit Kurzwellen-Sendeantennen vollgestellten Felder zwischen Lilbourne und Rugby an. Interessanter Anblick, aber nicht gerade umwerfend schön, die Gegend. Daran ändert auch das Schild "Welcome to Shakespeare's Country!" nichts. Ich würde mich ja nur zu gern vor der kommenden Steigung und vor den schwarzen Abgasen der überholenden Lastwagen drücken, aber: Was sein muss, muss sein. Außerdem liegen erst 100 km Tagesstrecke hinter mir, und die Sonne geht bald unter. Ich habe mir eigentlich vorgenommen, nach London mindestens 150 km täglich hinter mich zu bringen, bin also mit meiner bisherigen Leistung alles andere als zufrieden. Trotzdem: Mein Ziel, übermorgen in Bangor anzukommen, gebe ich nicht auf, nehme mich dabei aber nicht allzu ernst, weil ich weiß, wie verrückt es wäre, mit einem 80 kg schweren Fahrradgespann eine solche Strecke in elf Tagen zu schaffen. Es zeichnet sich ja schon ab, dass ich auf jeden Fall nach weniger als zwei Wochen Fahrt ankommen werde, und das ist an sich schon erstaunlich genug.

Hinter dem -> Abzweig nach Lutterworth wird die A5 wieder einmal vierspurig, aber: Einseitige Verkehrsführung wegen Bauarbeiten, keine Überholmöglichkeit, keine Haltegelegenheit. Ich trete, was ich kann, um die Lkw-Schlange hinter mir nicht zu sehr aufzuhalten, und fahre schließlich ab (lange Verschnaufpause) in den Weiler namens -> Willey, von wo aus eine erholsame Nebenstraße auf Hinckley und Nuneaton zuführt. Frischluftzufuhr und der stimmungsvolle Anblick des im letzten Blauviolett des zu Ende gehenden Tages schimmernden Feld- und Heckenlandes wirken wenigstens halbwegs erholsam und ermuntern mich, eine gemütlich bummelnde Nachtfahrt durch -> Attleborough (Einkauf) und -> Nuneaton an den Tag anzuhängen. Viele Jugendliche pendeln in Nuneaton zwischen den zahllosen Pubs und feuern mich frech an oder wollen auf dem Anhänger mitgenommen werden.

Begegnungen im abendlichen Nuneaton

In Nuneaton bestelle ich mir an einem Imbisswagen einen "Veggieburger" (Vegetable Burger, infolge der BSE-Krise in Mode gekommen), bezahle, lege ihn auf die Anhängerplane, gehe zu meiner Packtasche vor, um den Geldbeutel zu verstauen, wende mich wieder zum Anhänger zurück - und der "Veggieburger" ist weg. Geklaut, Schweinerei! So komme ich mit dem türkischen Imbisswagenbesitzer ins Gespräch - in einer Mischung aus Deutsch und Englisch, denn es stellt sich heraus, dass er vor längerer Zeit in Mannheim seiner Tätigkeit nachgegangen ist. Ein kleiner Junge stößt hinzu und will alles, penetrant alles über mein Fahrrad und meine Tour wissen. Dass ich dazu kein Auto verwende, kann er zwar beim besten Willen nicht verstehen, aber immerhin bringt er mir die richtige Aussprache von "Nuneaton" bei.

Rundfunk und Nachtfrost

Nuneaton -> Atherstone -> Schlafplatz dahinter.

Radio hörend zurück zur A5. Es wird richtig frostig, ich muss Handschuhe, Mütze und Schal aus den Packtaschen ausgraben. Im Bereich Atherstone mache ich mich, völlig erschöpft, auf Schlafplatzsuche. Hinter der Stadt finde ich einen eingezäunten, schlammigen Platz mit ein paar Kieshaufen, einem Heuwender und sonstigem Traktorzubehör. Der große, von Disteln und Gestrüpp gesäumte Stapel Strohrollen am Zaun gegenüber wird in Augenschein genommen und als Versteck für gut befunden. Fahrrad dahinter schieben, Gestrüpp plätten, Schlafsack daneben, und: Good night!

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Bangor, Herbst / Winter 1996; Tübingen-Bühl, August 2005 und Juni 2006 - Peter Liehr

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