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Anthroposophie

Gedanken, Beobachtungen und Notizen, Kritik

Rudolf Steiners Denkweise nachvollziehen oder nicht? Nicht für jeden eine leichte Entscheidung...

Mehrere Dinge werden von kritischer Seite an Rudolf Steiner und seiner Anthroposophie beanstandet. Dazu gehört u.a. die Tatsache, wie umfassend der von ihm betrachtete Gegenstandsbereich ist. Bei aller Faszination sind Zweifel ja durchaus legitim, inwieweit eine einzelne Person überhaupt in der Lage sein kann, ein so umfangreiches Themenfeld umfassend zu begreifen und zu durchleuchten, wie Steiner es tat. Muss ein solches "All-Inclusive-Package" seine Gegenstände nicht zwangsläufig nur streifen und somit ungemein ausgedünnt und gehaltlos sein?

Solche Zweifel, die aufkommen können, wenn man sich noch nicht mit Primärtexten von Steiner auseinander gesetzt hat, werden durch eine Lektüre Steiners recht schnell entkräftet. Hier hat sich jemand intensiv mit den von ihm betrachteten Gegenständen beschäftigt und die aus seiner Denkweise gewonnen Erkenntnisse in - häufig nicht einfach formulierten bzw. nicht unmittelbar nachvollziehbaren - Worten und Schriften niedergelegt. Ob man's nun nachvollziehen kann oder es schlicht für kraus und unverständlich hält, gehaltlos ist es jedenfalls nicht.

Am Punkt der Nachvollziehbarkeit setzt weitere Kritik ein. Rudolf Steiner hat eine aus seiner Menschenanschauung erwachsende, über den verbreiteten Wissenschaftsbegriff hinausgehende Auffassung von Wissenschaft und Erkenntnisgewinnung, und die nachzuvollziehen ist nach derzeit (bzw. bereits seit geraumer Zeit) vorherrschender Welt- und Menschenbetrachtung keineswegs evident. Hier scheiden sich - ganz individuell von Person zu Person - die Geister daran, ob man denn einen Schulungsweg wie denjenigen, den Steiner in seinem Werk Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten? vorgezeichnet hat, zu akzeptieren und zu gehen in der Lage und gewillt ist.

Steiners offener Umgang mit dem Begriff des Okkulten, seine Bezugnahmen auf okkulte Quellen der Erkenntnisgewinnung, wie sie zum Beispiel auch in Vorträgen zu finden sind, in denen er sich mit Umgangsformen mit der sozialen Frage auseinander setzt, dürften diejenigen auf Distanz zu gehen veranlassen, für die an dieser Stelle der feste Boden des verlässlich beweisbaren wissenschaftlichen Erkennens endet. Für sie ist Steiner schlicht pseudowissenschaftlich. Sie werden bei der Aussage "Ich glaube nur das, was ich sehe (bzw. aus meiner augenblicklichen Sicht der Welt nachvollziehen kann)." stehen bleiben - und sich folglich, so kann man es aus Steiners Sicht sehen, der Tatsache verschließen, dass der Mensch mittels seiner seelischen Kräfte in der Lage ist, zusätzlichen Sinnesorganen gleichende Fähigkeiten zu entwickeln, mit denen besagte Skeptiker eben mehr sehen könnten. So Steiners Überzeugung, die er mit seiner eigenen entsprechenden Erfahrung begründet.

"Okkultismus und Esoterik - gefährlicher Bereich, daher: Finger weg." So dachte auch ich lange, und Vorsicht kann in diesem Bereich ja durchaus nicht schaden. Es handelt sich jedoch bei diesem "Finger weg", so meine ich, um eine vereinfachende Denk-Folgerung, die eben zu Zwecken des Selbstschutzes vereinfachend ausfällt. Das zu kritisieren steht mir fern, Selbstschutz ist - in verschiedenen Lebensphasen jeweils in unterschiedlicher Akzentsetzung und Stärke - sicherlich ein wichtiger Teilaspekt körperlichen wie seelischen Selbstfindungs- und Selbstbehauptungswillens. Und was Okkultismus und Esoterik angeht: Weder mit den Auffassungen und Philosophien, die hinter der New-Age-Bewegung stehen, noch mit denjenigen, von denen Death-Metal-Bands geprägt sind, habe ich mich bislang befasst, und ich weiß auch noch nicht, ob ich es einmal in eingehender Weise tun werde. New Age und Satanismus - diese beiden Pole dürften nicht wenigen als exemplarische Assoziationen mit den Begriffen "Esoterik" und "Okkultismus" in den Sinn kommen. Trotz seiner grundlegenden Bezugnahme auf okkulte Erkenntnisgewinnung bin ich dagegen in Rudolf Steiners Texten - bislang jedenfalls - noch nicht auf Äußerungen gestoßen, die bei mir verstärkt entsprechende "Selbstschutz-Reflexe" wachgerufen hätten, wenngleich ich mich an einzelnen Abschnitten und Formulierungen bisweilen durchaus zweifelnd "festbeiße".

Für mich, der sich mit Rudolf Steiner bis dato - angesichts der Vielfalt seiner Werke - nur wenig mehr als bloß oberflächlich auseinander gesetzt hat, bleibt als Zwischenfazit, dass der Begründer der Anthroposophie faszinierende, seiner Zeit oft weit voraus greifende und bei eingehender Betrachtung durchaus sehr nachvollziehbare Gedankengänge vorlegt. Da es mir bislang nicht gelang bzw. ich noch nicht genügend Mühe aufbrachte, seine im Okkulten fußende Art der Erkenntnisgewinnung intensiv zu verinnerlichen und wirklich aus dieser Sicht heraus zu schauen, ist mir eine Beantwortung der nahe liegenden Frage "Woher hatte er das alles bloß?" nur weniger als rudimentär möglich. Hier gilt es, einen langjährig mit Steiner befassten Kenner seiner Lehre zu fragen, und auch hier dürfte die Auswahl, ob man nun einen Anhänger oder einen Kritiker Steiners fragt, von Einfluss sein. Wie bei anderen Geistesschulen auch, hilft letztlich wohl nur das Selber-Ausprobieren - vorausgesetzt, entsprechender Mut sowie die hinreichende Bereitschaft und Möglichkeit, Zeit (und "Grips") zu investieren, sind vorhanden.

Tübingen-Bühl, 14.12.2006 - Peter Liehr

"Suche im eigenen Wesen:
Und du findest die Welt;
Suche im Weltenwalten:
Und du findest dich selbst;
Merke den Pendelschlag
Zwischen Selbst und Welt:
Und dir offenbart sich:
Menschen-Welten-Wesen;
Welten-Menschen-Wesen."

Rudolf Steiner [zitiert nach: Carl Unger. Schriften. Dritter Band. Aus der Sprache der Bewusstseinsseele. Unter Zugrundelegung der "Leitsätze" Rudolf Steiners. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 2. Auflage, 1971, S. 149.]

Kritik

Kritikpunkte

  • Rassismus bzw. Rassismusverdacht
    • bei Rudolf Steiner und in seinen Werken
      1. Vorhandensein zumindest aus heutiger Sicht als rassistisch diskriminierend einzustufender Äußerungen
      2. rassistisch auslegbare Passagen und Begriffe
      3. außerdem Verwendung des Rassebegriffs (u.a. "Wurzelrassen") in eindeutig nicht-diskriminierender Intentionalität und Form
      • Meinen bisherigen Lektüreerfahrungen zufolge stellt sich mir Steiner in der Gesamtschau als eine dem Rassismus durchaus abgeneigte Person dar. Gerade sein Bemühen um neue Betrachtungen des sozialen Miteinanders der Menschheit ist ein Aspekt, der ihn lesenswert macht. Rassistisch diskriminierenden Äußerungen in Steiners Werk mag und darf man mit "leider", "unverzeihlich", "angesichts des Werksumfangs nicht allzu gewichtig", "skandalös", "seinerzeit nicht unüblich" und mit vielen anderen, jeweils anders nuancierenden Attributen begegnen. An den Äußerungen ändert dies nichts. Einen Grund, auf die Lektüre des umfangreichen Steiner'schen Werks insgesamt zu verzichten, sehe ich darin jedoch ebensowenig. [Tübingen-Bühl, 21.07.2008 - Peter Liehr]
      • Links
    • bei Anthroposophen während des "Dritten Reiches"
      1. Verstrickungen von Anthroposophen in den Nationalsozialismus
  • Wissenschaftsanspruch
    1. Wissenschaftsbegriff nicht deckungsgleich mit gängigen Auffassungen
    2. Wissenschaftsanspruch wird von vielen nicht akzeptiert
    3. Bezugnahme auf Esoterik
    • Was für Rudolf Steiner Esoterik (Einweihungs- / Geheimwissen) ist, macht er in großem Umfang öffentlich und allen zugänglich. Steiners Werke sind überall zu erwerben und nicht auf einen geschlossenen Anhänger- oder Mitgliederkreis beschränkt. Es ist also nicht Sinn und Zweck der Anthroposophischen Gesellschaft, geheimnistuerisches Sektierertum zu verfolgen. Missionarischer Eifer oder dogmatische Zwänge sind ebenfalls nicht ihr Ziel. Sie bemüßigt sich vielmehr, mit wissenschaftlichem Anspruch geistige Phänomene zu betrachten - ohne Nachvollziehenszwang, auch für ihre Mitglieder nicht. [Tübingen-Bühl, 21.07.2008 - Peter Liehr]
  • Egoismus als mögliche Folge von Ich-Stärkung
    • In anthroposophischen Meditationsformen wird bisweilen eine Ich-Stärkung angestrebt und auch erreicht. Aus Betrachtungssicht eines gegen Ende seines dritten Lebensjahrzehnts zur Anthroposophie Hinzugekommenen empfinde ich bisweilen die Fälle als schade, in denen dies in mir den Eindruck hervorruft, mit einer auf mich unausgewogen und für das Soziale abträglich wirkenden Egoismus-Stärkung einzuhergehen. [Rottenburg am Neckar, 09.10.2013 - Peter Liehr]

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