Ein großes Problem beim Versuch eines friedfertigen und über Religionsgrenzen hinweg im Austausch befindlichen Zusammenlebens verschieden gläubiger Individuen und Gruppen ist der Zusammenprall der durch religiöse Prioritäten unterschiedlich geprägten Weltbilder.
Dass in manchen moslemischen Kreisen die deutsche Verfassung als problematisch oder gar als inakzeptabel angesehen wird, ist für Deutsche nicht-muslimischen Glaubens nur schwer oder gar nicht zu akzeptieren, für viele andere Muslime übrigens gleichermaßen. Doch die Tatsache, dass nicht ganz unbedeutenden Koranauslegungsrichtungen zufolge Allahs Gesetz, wie es der Name schon sagt, als Gottesgesetz und damit als über jedwedem menschlichen Gesetz stehend zu betrachten ist, kollidiert mit der dem deutschen Gesetzeswesen inhärenten Rechtsauffassung, der zufolge das Grundgesetz obersten Verfassungsrang hat, nicht zuletzt auch zu dem Zweck, durch die Festschreibung religiöser Freiheit die friedliche Koexistenz verschiedener Glaubensrichtungen zu ermöglichen. Hier stoßen Glaubens- und Denkwelten aufeinander. (Der Islam hat hier im übrigen keinesfalls ein "Monopol" darauf, mit dem Grundgesetz "zusammenzustoßen", ein spezifisch fundamental ausgelegtes Christentum - wie zugleich viele andere Glaubensrichtungen - könnte und kann das ebenfalls "leisten".) Lohnt es sich, hier trotzdem weiter zu diskutieren? Ich denke, ja. Auch an diesem Punkt, wenngleich ich an etwas anderer Stelle fortfahre.
Nun kann dem Islam, dem Christentum oder anderen Religionen in ihrer praktizierten Form die Fähigkeit und der Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben mit Angehörigen anderer Glaubensrichtungen weder pauschal zu- noch abgesprochen werden. In allen Religionsgemeinschaften trifft man (einschließlich aller Zwischennuancen) sowohl auf Gläubige, die auf intolerante Weise die kompromisslose Durchsetzung des eigenen religiösen Weltbildes verfolgen, als auch auf Gläubige, die am Verständnis der religiösen Weltsicht Andersgläubiger ebenfalls interessiert sind und sich die Frage danach stellen, wie viel an Austausch mit ihnen möglich ist, ohne den eigenen religiösen Standpunkt zu verlieren. Dass jedoch auch Dialogwillige sich im Dialog letztlich an den unterschiedlichen Antworten auf religiöse Grundfragen in oft schmerzhafter Weise "den Kopf stoßen", ist eine frustrierende Erfahrung, die kompromisslosen Anhängern einer "reinen" Lehre als Argument dient, einen Dialog angesichts seiner von vornherein feststehenden Aussichtslosigkeit - so ihre Sicht - gar nicht erst zu beginnen.
Ich plädiere dagegen dafür, lieber die Unvereinbarkeiten kennen (so anstrengend und frustrierend das bisweilen auch sein mag) und sich, wenn's gelingt, zugleich gegenseitig schätzen zu lernen. In vielen Fällen erweist es sich nämlich für jede Seite als bereichernd, gemeinsam der Frage nachzuspüren: "Warum glaube ich eigentlich so, wie ich glaube?" Gewiss sind da die großen, in einer jeden Religion fest verankerten Grundkonstanten, aber es kommt noch einiges hinzu: Höhepunkte im Leben, Leidenserfahrungen, einschneidende Erlebnisse und folgenreiche Entscheidungen. Die individuelle Lebensgeschichte prägt die Schwerpunkte, die wir in unserer religiösen Praxis bisweilen doch sehr unterschiedlich setzen, und hier bietet gerade der "fremde Blick" des religiös Andersdenkenden die häufig als bereichernd empfundene Möglichkeit, mehr über sich selbst zu erfahren. In den Begriff des religiös Andersdenkenden schließe ich dabei bewusst auch den "Ungläubigen", den Atheisten ein.
Solcherlei religiöser Austausch birgt jedoch eine von vielen Geistlichen jeglicher religiösen Couleur mit Argwohn beäugte "Gefahr": Die des oben bereits angesprochenen Verlustes des eigenen religiösen Standpunkts. Konversion. Es kann vorkommen, dass einen der Dialogpartner die religiöse Auffassung des anderen überzeugt und er zu dessen Religion (bzw. ggf. zu dessen Unglauben oder vom Unglauben überhaupt zum Glauben) übertritt. Das muss nichts Schlimmes bedeuten, sofern beide "beteiligten" Religionsgemeinschaften
Leider sind beide Voraussetzungen vielfach nicht gegeben, weshalb für viele ein Übertritt zu einem anderen Glauben gar nicht erst in Frage kommt oder aber zur Belastung, zur Gefahr wird. Konversion kann aber auch gelingen, und auch unter den Konvertiten gibt es (wiederum einschließlich aller Zwischennuancen) "solche und solche": Diejenigen, die sich ausschließlich und - wenngleich sich für sie darin natürlich ein großes Spektrum neuer Lebens- und Glaubensperspektiven auftut - gewissermaßen "eindimensional" auf ihre neu gewonnene religiöse Weltsicht konzentrieren, zugleich ihre Herkunftsreligon strikt ablehnen und bisweilen gar die Erinnerung daran ablegen wollen. Solcherlei ist nicht nur im religiösen Bereich zu beobachten - die schwäbischsten aller Schwaben seien "Neig'schmeckte", also Zugezogene, meinen manche Schwaben - und es hat in aller Regel Gründe, über die pauschal zu urteilen mir nicht ansteht. Des Weiteren gibt es diejenigen, die ihren religiösen Werdegang nachvollziehbar machen wollen und auch weiterhin ihre Vergangenheit kritisch würdigen können. Letztere können häufig in überzeugender Weise Türen öffnen, Einblicke bieten und Verständnis fördern. Und ein Gewinn für den friedfertigen Austausch zwischen den Religionen oder auch zwischen Gläubigen und Ungläubigen sein.
Ob es sich lernen lässt, unter der Prämisse eines friedfertigen Dialogs auch Unvereinbarkeiten zwischen den Glaubensrichtungen auszuhalten, kann nur die Zeit zeigen. Daran, ob man solches immer wieder von neuem zu versuchen habe oder ob man das Aushalten von Unvereinbarkeiten auch irgendwann für gescheitert zu erklären habe - ob man zu der einen oder der anderen Haltung denn überhaupt eine Alternative besäße -, darüber scheiden sich naturgemäß die Geister. Auch hier dürfte sicherlich in den seltensten Fällen pauschal zu urteilen sein.
Tübingen-Bühl, 18.10.2005 - Peter Liehr
Der im Verlauf der Jahre 2005 und 2006 entflammte Streit um entwürdigende Darstellungen des Propheten Mohammed in dänischen Karikaturen hebt auf schmerzhaft eindringliche Weise die immense Wichtigkeit interreligiösen und interkulturellen Dialogs hervor.
Tübingen-Bühl, 04.12.2006 - Peter Liehr