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Politik

Gegen Meinungsdruck

Meinungsunterschiede bestehen lassen können und dabei dialogfähig bleiben

Das, wovon ich derzeit ziemlich genug habe, ist der verbreitet spürbare "pressure groupism". Was ich damit meine? Der Mensch definiert sich gerne, manchmal zu gerne in Abgrenzung zu anderen Menschengruppen. "Ich gehöre zu denen und nicht zu jenen." Um diese Zugehörigkeit zu bekräftigen und sich ihrer zu vergewissern, regt man sich gerne in der eigenen Gruppe über die tatsächlichen oder vermeintlichen Denkfehler, falschen Vorgehensweisen und anderen Unzulänglichkeiten "jener anderen" auf. Zahlreiche Medien, Nichtregierungsorganisationen, Parteien und andere Gruppierungen (wenngleich gewiss nicht alle und nicht immer) nutzen das aus und versuchen, mit einer Flut zielgruppengerichteter Veröffentlichungen zu bestimmten Themen eine solche Aufregung gezielt auszulösen, um dann, in geschickten Formulierungen verpackt oder dem Leser oder Zuhörer vermeintlich aus der Seele sprechenden Schlagwörtern ausgedrückt, ein Publikum zu vorschnell eingenommenen Haltungen zu verführen. Das verstehe ich unter "pressure groupism": Ausüben von Meinungsdruck, der darauf zielt, den anderen nicht zum "Selber-Denken" kommen zu lassen. Besonders Unentschlossene, Zweifelnde empfinden unter solchem Meinungsdruck ihre Unentschlossenheit als Mangel und neigen dazu, das Identifikationsangebot rasch anzunehmen. Nicht selten üben daraufhin gerade sie auf andere Unentschlossene wiederum einen ähnlichen Entscheidungsdruck aus, um sich in der Gruppe der vermeintlich Gleichgesinnten, die so entsteht, in ihrer vermeintlichen Überzeugung bestärkt zu fühlen.

Mir geht es um etwas anderes. Ich möchte solche Aufregungen abbauen. Ich möchte - zunächst ganz unabhängig von der eigenen Position - Verständnis haben und Verständnis schaffen zwischen verschiedenen (politischen wie anderen) Einstellungen - was freilich nur funktionieren kann, wenn das Gegenüber zu ähnlicher Gesprächsoffenheit bereit ist und nicht zu doppelbödiger Argumentation oder Extremismen neigt. Ich möchte, dass Menschen verschiedener Couleur fähig sind und bleiben, miteinander zu reden, anstatt einander "anzukläffen" und sich wechselseitig ihrer Fehler zu bezichtigen, gleichwohl, ob das nun offen und lautstark oder subtil-tendenziös geschieht.

Ehrlicher, takt- und respektvoller Dialog ist und bleibt wichtig. Meinungsunterschiede dürfen dabei sowohl überbrückt als auch bestärkt werden. Wie sie aussehen soll, die Dialog- und Diskussionskultur, die mir vorschwebt? Dazu ein paar Stichworte:

  • eigene Standpunkte erläutern - und zugleich bemüht sein, andere Positionen zu verstehen
  • zu überzeugen statt zu überreden versuchen - und dabei das Scheitern eines Überzeugungsversuches nicht als Niederlage empfinden (so verbissen braucht man nicht zu sein, wirklich nicht)
  • auch selbst bereit sein, sich Überzeugungsversuchen auszusetzen - Beharrlichkeit (eigene wie fremde) als Wert respektieren, aber nicht überbewerten

Eigene Standpunkte zu finden kann unter solchen Prämissen sicherlich mühsam sein. Andererseits: Überrumpelt durch Meinungsdruck, drängt sich mir, wenn ich Pech habe, mit schöner Regelmäßigkeit die Frage auf, ob mein Standpunkt denn wirklich der eigene ist.

Tübingen-Bühl, 11.12.2004 - Peter Liehr

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