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Table française - der französische Sprach-Treffpunkt in Kirchheim unter Teck

Geschichten, Essais, kürzere Texte

"Ne me fais pas d'histoires!"

Mach' mir bloß keine Geschichten!

Vorsicht Kunst! Hier ist Raum für Texte, die mit Kirchheim, Rambouillet und all dem, worum sich's an der table française dreht, in näherer oder auch weniger naher Weise zu tun haben.

Wenn jemand von der table française hier gerne einen eigenen Text sehen würde - bitte mit mir in Verbindung setzen.

Umsteigen

"Nächster Halt: Kirchheim." Die monotone Stimme des Zugführers hebt sich nur schwach vom Motorengeräusch des bremsenden Schienenbusses ab. Ich steige aus und gehe am Fahrradständer vorbei zum Busbahnhof. Der Schienenbus verschwindet hinter Hecken um die Kurve Richtung Dettingen und Oberlenningen, und nachdem auch der Bus nach Notzingen abgefahren ist, wird es still.

Die tief stehende Sommerabendsonne taucht die Silhouetten einzelner übrig gebliebener Flohmarkthändler hinter dem AOK-Gebäude in orangegelbes Licht, während ich mich auf die Bank an Bussteig zwei setze. Die Bahnsteige zwischen den drei Gleisen sind leer, die Gleise auch. Auf einem Abstellgleis dazwischen, das kurz vor der Unterführungstreppe endet, stehen an einem gestrüppüberwachsenen Prellbock, halb verdeckt von zwei Plakatwänden, vier Schotterwagen. Nur wenig verrostet, aber ziemlich verbeult. Auf der linken der beiden Plakatwände hält sich Maus Jerry mit Hilfe eines Ventilators und des elektrischen Stroms von EnBW Kater Tom vom Leib, die rechte Plakatwand feiert bierseelig hundert Jahre Sanwald. Mit Trachtengestalten, die vielleicht von demselben Comiczeichner stammen wie Maus und Katze daneben. So, wie sie aussehen...

Die Flohmarkthändler packen ihre Küchenmesser, Heizlüfter, Gewindeschneider, Marienbilder und Campingtische in ihre Kombis und verlassen das Güterbahnhofsareal, das nun als große, verlassene Teerfläche unter der Brücke zur Autobahn im Gegenlicht glänzt. Die zwei Siebeneinhalbtonner der Autovermietung werfen lange Schlagschatten. Die Rampe der ehemaligen Bahn-Post-Verladestelle ist leer, so wie immer schon, seit die Post Briefverteilzentren hat und nur noch auf der Straße befördern lässt.

Der Bus aus Bissingen holt aus und biegt hinter mir mit einem Bogen auf Bussteig drei ein. Der Fahrer achtet besorgt auf seinen Rückspiegel, aber der Abstand zu den beiden Kugellaternen auf dem Bussteig reicht aus. Ein Schienenbus aus Oberlenningen bremst, hält an Gleis eins an und lässt ein Rentnerehepaar in Wanderausrüstung zwischen den Springbrunnen am Krankenkassengebäude und dem "Kiosk am Busbahnhof" in die Fußgängerunterführung Richtung Teckcenter verschwinden.

Gleichzeitig mit dem abfahrenden Schienenbus macht sich auch der Bus aus Bissingen auf die Rückfahrt. Zwei gelangweilte Jungen kommen mit langsamen Schritten aus Richtung Tanzschule auf den Bussteig. Mit gespielter Gelassenheit und "baggy" Hosen stehen sie da und verbrennen mit einem Feuerzeug Papierschnipsel, als sie aus dem Fahrplan nicht schlau werden. "Sie, Tschuldigung, fährt'n da'n Zug?" (Würziger Gestank von verbranntem Papier.) "'N Zug?" - "Äh, nee, 'n Bus mein' ich." (Warum muss der Rauch ausgerechnet hierher...) "Zwanzig Uhr fünf. - Nee, nich' früher. Is' noch 'ne Viertelstunde. - Nee, kein Sammeltaxi. 'N Bus." Die Jungs entscheiden sich, lieber zu Fuß nach Hause zu gehen - mit dem gleichen gelangweilten Schritt, mit dem sie gekommen sind.

Gähnend verfolge ich in Gedanken mehrere meiner Bahnfahrten, die aber nicht zwangsläufig hier ihren Anfang hatten oder hier endeten. Städtenamen wie Paris (Gare de l'Est) Freiburg (nächtliche Stadtführung mit Gruseleffekt), Brasov (Balt-Orient-Express), Wien (Donauradweg) oder auch nur Stuttgart gehen mir durch den Kopf. Eine Taube landet und wirbelt die verbrannten Papierschnipsel vom Bussteig auf die Fahrbahn. Sie stolziert am Fahrplanschild vorbei, pickt da und dort ein wenig, findet aber nichts. Als mein Bus kommt, verliert sie sich flatternd in der grellroten Scheibe der untergehenden Sonne.

"Einmal Egelsberg, bitte." Während der Bus zwei Minuten bis zur fahrplanmäßigen Abfahrt wartet, kommen noch mit eiligem Schritt zwei Damen mittleren Alters aus dem Bahnhofsgebäude. Die eine mit Jeanshose, Jeansjacke, kurzen rotbraunen Haaren, einer Reisetasche in der linken und Nucki-Nuss-Eis in der rechten Hand. Die andere mit Nucki-Erdbeer, blonden, halblangen Haaren, Handtasche (Lack, blauschwarz), Rock, Bluse (Ockertöne) und einem Lausejungengrinsen im Gesicht, als hätten beide zusammen gerade etwas angestellt. Beim Versuch, einzusteigen, weist der Busfahrer die beiden in die Schranken. "Halt! Earschd färdigschlotza. Aaabr schnell! I woiß doch, wia des nor emmr aussieht auf de Sitz..." - "Jojo, scho okee", beeilt sich Nucki Erdbeer zu sagen - und wirft Nucki Nuss dabei einen vielsagenden Blick zu.

Nucki Nuss löst nach Holzmaden, Nucki Erdbeer nach Jesingen. Beide setzen sich auf die Doppelsitze neben mir und fangen an, sich über ihre Erfahrungen mit dem öffentlichen Personenverkehr zu unterhalten. Nucki Erdbeer: "I hedd mr scho längsch a Daurkard kaofd, abr do, moa i ällaweil nafahr, do geit's koe VauVauEs mee, des isch em, wia hoißt's 'n no schnäll, des isch em Naldo. Ond i miaßd mr jetz zwoe Daurkarda fiar boede Regiona kaufa, abr i bea doch ed bleed." Nucki Nuss: "Jo, maen Ongl aos Karlsruhe, der hot's do bessr. Sodsch's ed glauba, abr dui hend do aen Riesenvrbundsyschtem, ia sag's dr, aen RIE-SEN-vr-bundsyschtem." Nucki Erdbeer: "So ebbs braecht mr halt do ao." Nucki Nuss: "Ha no, abr des do isch jo ao scho om oenigs bessr worra." Nucki Erdbeer: "Ha no, i well jo ao et jammra..."

Das Gespräch geht weiter, während Postplatz, Kino, Martinskirche und nördlicher Alleenring an den Fenstern vorbeiziehen. Am Schlossgymnasium steigt mit spürbarer Aufregung ein Schüler zu, als erster in einer kurzen Schlange. "I hao ma Fahrkard vrgessa." - "Derfsch et macha. I han man Omnebus do ao ned vrgessa. Auf, gang scho hendre", sagt der Busfahrer lakonisch. Das ist weniger Ärger als befürchtet, sichtbar erleichtert schleift der Vergessliche mit seinem neuen Eastpak-Rucksack die Sitzreihen nach hinten entlang. "Ma muinsch, hot der ao koi Fahrkard?" - "Koa Ahnong." Zwei Mädchen etwa gleichen Alters tuscheln Kaugummi kauend in der Sitzreihe hinter mir, aber der Schlaksige mit der Gelfrisur kramt umständlich ein Fahrkartenetui aus seiner Sporttasche und blockiert ein paar Augenblicke die Schlange der Einsteigenden.

Als Nucki Erdbeer in Jesingen aussteigt, sind zwischen den Sitzreihen unter den sieben Schlossgymis kleinere Sticheleien und Prahlereien über zwei verschiedene Projekte im Gange. Ah, Projekttage, denke ich, deshalb die Schüler zu so später Stunde. Und mit nachdenklichem Grinsen wandern die Gedanken zurück zu den wenigen Projekttagen, die es zu meiner Schulzeit gab. Währenddessen wird der Bus von Haltestelle zu Haltestelle leerer, bis ich schließlich als einzig verbleibender Passagier an der Haltestelle "Egelsberg, Teckstr." den Halteknopf drücke. Im Wohnblock sind die ersten Lichter angegangen.

Kirchheim unter Teck / Weilheim an der Teck / Tübingen, 2003 - Peter Liehr

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