Entgegen gestrigen Vermutungen ist Taliban-Führer Omar offenbar doch noch nicht festgenommen worden. Die Anti-Taliban-Kämpfer haben ein Dorf umstellt, in dem Omar vermutet wird. Sie werden von US-Truppen unterstützt. US-Kampfflugzeuge greifen weiter Ziele im Osten Afghanistans an, wo sie Taliban-Chef Omar vermuten. Dabei kommen im Laufe des Tages nach Angaben der Presseagentur AIP 32 Zivilisten ums Leben.
Israel; USA: US-Sondervermittler Anthony Zinni setzt seine Gespräche in Israel fort. Es wird erwartet, dass er dem israelischen Ministerpräsidenten Scharon empfehlen wird, die Forderung nach sieben Tagen absoluter Ruhe im Nahostkonflikt fallen zu lassen, bevor Israel den Mitchell-Friedensplan umzusetzen bereit ist. Diese Forderung aufzugeben dürfte der israelischen Regierung schwer fallen, und es ist fraglich, ob sie einem solchen Vorschlag folgen wird, zumal Palästinenserführer Arafat in der Vergangenheit auch Kontakte zu radikalen palästinensischen Gruppen hielt (und vielleicht noch hält), die möglicherweise hinter den Anschläge gegen Israel stehen. Einerseits ist verständlich, dass es Israel unter solchen Bedingungen schwer fällt, Arafats Palästinenserbehörde als Verhandlungspartner zu akzeptieren und ernst zu nehmen, andererseits steht die Frage im Raum, ob es eine Alternative zu Arafat gibt. Wer käme sonst als Partner für Friedensverhandlungen in Frage? Aus Sicht Arafats ist zudem zu fragen, ob er es sich hätte leisten können, auf (auch unterstützende) Kontakte zu radikalen Palästinensergruppen zu verzichten, ohne den hinreichenden Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung zu verlieren, der ihm zusichert, als Palästinenserführer anerkannt zu werden. Aber bis zu welchem Maß sind Kontakte zu Gruppen akzeptabel, die Selbstmordattentäter ausbilden? Es ist eben leider äußerst schwer und offenbar nicht ohne Kontakte zu radikalen Gruppen möglich, in zwei verfeindeten, um Teile eines Landes konkurrierenden Bevölkerungsgruppen Frieden zu säen, weil andernfalls eben diese Gruppen, da sie sich und ihre Forderungen missachtet sehen, den Weg zum Frieden dauerhaft zu torpedieren suchen. Die Frage ist dieselbe wie in anderen vergleichbaren Konflikten, so z.B. auch wie im Nordirlandkonflikt: Wer kann seiner eigenen Bevölkerungsgruppe wieviel zumuten? Und wieviel kann er der anderen Bevölkerungsgruppe zumuten, mit der er um Frieden verhandeln will? Wieviel kann Arafat den Palästinensern, also besonders ihren radikalen Gruppen abfordern, ohne dass sie sich gegen ihn wenden? Und wie friedensbereit gegenüber den Palästinensern kann Scharon den Israelis sein, ohne bei nächster Gelegenheit abgewählt und womöglich durch einen noch radikaleren, dem Frieden abgeneigten Nachfolger ersetzt zu werden? (Außerdem: Will er den Palästinensern entgegenkommen?) Der als Vergleich herangezogene Nordirlandkonflikt macht heute auch mit zwei Bombenanschlägen in Nordirland von sich hören. Ein Mann wird in einem Dorf bei Belfast getötet. Auch nördlich von Belfast wird ein Sprengsatz in ein Haus geworfen. Niemand wird verletzt. Weitere Nachrichten am Abend: Palästinenserführer Arafat drängt zurück an den Verhandlungstisch: Er bekundet seinen Friedenswillen, betont aber auch, dass die Palästinenser dazu eine baldige Perspektive bräuchten. Zinni übt augenscheinlich doch keinen Druck auf Scharon aus, die Forderung nach sieben Tagen Ruhe vor einer Rückkehr zu Verhandlungen aufzugeben. Zinni gibt sich dennoch über die Erfolgsaussichten seiner Vermittlungsversuche optimistisch: "Die Bedingungen sind günstig, um Fortschritte zu machen."
Israel; Palästina: Von Israel, so wird erst am Abend bekannt, wird ein unter palästinensischer Flagge fahrendes Schiff in Roten Meer aufgehalten, das in großen Mengen Waffen für palästinensische Terrorgrupen geladen hat. Von 50 Tonnen ist die Rede. Die Aufgreifung des Schiffes verhindert vermutlich großen Schaden in Israel und damit große israelische Militärreaktionen gegen die Palästinenser, und das ist zu begrüßen. Ob es seine Richtigkeit hat, dass die israelische Regierung die gescheiterte Waffenlieferung als Beweis dafür ansieht, dass die palästinensische Autonomiebehörde eben doch Terroristen unterstützt, kann ich im Moment nicht beurteilen. Dass in solchen Fällen eine gebotene Zurückhaltung gegenüber vorschnellen Schuldzuweisungen oft nicht beachtet wird, ist mir jedoch leidlich bekannt. Palästinenserführer Arafat reagiert prompt und weist die israelischen Vorwürfe zurück. Ob er lediglich die Vorwürfe von Seiten Israels oder die gesamte Aufgreifung des waffenbeladenen Schiffes als Propagandatrick gegenüber dem Nahostvermittler Zinni zu Ungunsten der Palästinenser bezeichnet, lässt sich den von mir verfolgten Radioberichterstattungen (Radio SWR 2) nicht ganz eindeutig entnehmen. Wichtig wird sein, wie Zinni sowie die israelische und die palästinensische Führung jetzt mit dem Vorfall umgehen. Als Grund bzw. Vorwand für eine weitere Eskalation des Nahostkonfliktes ist er erfahrungsgemäß allemal tauglich. Er kann aber ebenso als Dringlichkeitszeichen für diplomatische Fortschritte bei der Konfliktbewältigung bewertet werden. Das wäre weitaus begrüßenswerter.
Heute werden fünf Marineschnellboote der deutschen Bundesmarine auf ein ziviles Transportschiff verladen, um ans Horn von Afrika oder zum Golf von Aden (uneinheitliche Meldungen) gebracht zu werden. Sie sollen dort patroullieren und den Schiffsverkehr überwachen. Seit Mittwoch sind bereits sechs (oder sieben? - ebenfalls uneinheitliche Meldungen) deutsche Schiffe unterwegs. Sie sollen in etwa drei Wochen ihr Einsatzgebiet erreichen. Das Abkommen über die Stationierung der internationalen Schutztruppe um Kabul wird heute unterzeichnet. Die deutschen Offiziere im Vorauskommando der Schutztruppe beenden ihre Erkundungen. Zivile Transportflugzeuge werden angemietet, um deutsche Soldaten und Material der Schutztruppe möglichst schnell nach Afghanistan einzufliegen.
Afghanistan; Deutschland; USA: Deutsche Hilfsorganisationen vermuten im Gegensatz zu US-amerikanischen Organisationen, dass in Afghanistan nach wie vor eine Hungerkatastrophe drohe.
Afghanistan: Bei dem Schusswechsel in der Nähe der pakistanischen Grenze wird in Afghanistan ein US-Soldat getötet und weitere verletzt. Es ist der erste Soldat, der direkt im Gefecht getötet wird. Ein US-Soldat wurde bereits in der Vergangenheit bei einem US-Luftangriff versehentlich getötet.
Indien; Pakistan; Kaschmir-Konflikt: Indische und pakistanische Truppen beschießen sich weiterhin. Es gibt Verletzte unter Militär und Zivilbevölkerung.
Der Beginn des Südostasiengipfels verschiebt sich um einen Tag auf morgen, weil der pakistanische Militärmachthaber Musharraf verspätet dorthin abgeflogen ist.
Tschetschenien, Russland: Der Tschetschenienkrieg flammt wieder auf, es gibt Raketenangriffe von russischer Seite. Die Bewertung Russlands durch die USA und die europäischen Länder wird das jedoch voraussichtlich nicht ändern, wird doch Russland eindeutig als Koalitionspartner im Anti-Terror-Krieg anerkannt und gebraucht. Eine kritische Ausleuchtung und Diskussion der Vorgänge in Tschetschenien, bei denen sich Russland in der Vergangenheit mehr mit Blut als mit Ruhm bekleckerte, ist somit nicht zu erhoffen, und es bleibt zu befürchten, dass wir an einen einseitigen Terrorbegriff gewöhnt werden. Übrigens: Auch in Tschetschenien besteht die Gefahr, dass sich der Konflikt religiös weiter auflädt. Von moslemischer Seite (aus tschetschenischem, d.h. anti-russischem Blickwinkel) wird er schon in vielfältiger Weise als religiöser Kampf betrachtet.
Tübingen, 04.01.2002 - Peter Liehr