Katholisch- und protestantisch-christlicher Kulturkreis: Ostersonntag.
Israel-Palästina-Konflikt: Ungläubig reibe ich mir die Ohren. Das, was die Abendnachrichten im Radio (SWR1) heute melden, ist schwer zu begreifen. Den totalen Krieg gegen den Terrorismus habe der israelische Ministerpräsident Scharon erklärt. Ich wechsle zum Deutschlandfunk: Ein zögernder, nervös wirkender Sprecher, hin und wieder mitten im Wort stockend, verwendet dort die Formulierung interessanterweise nicht.
Rückblende: In den vergangenen Monaten drehte sich die Gewaltspirale zwischen der israelischen und der paläsinensischen Seite andauernd weiter. Palästinensische Selbstmordanschläge zogen israelische Vergeltungsschläge nach sich, auf die erneut palästinensische Selbstmordanschläge folgten. Vergeltung gegen Vergeltung, Gewalt gegen Gewalt, Zahn um Zahn. Auch Mord wird, so scheint es, von beiden Seiten weiter zunehmend in Mord aufgerechnet. In den letzten Wochen steigerte sich die grausame Effizienz der palästinensischen Selbstmordattentate. Die Anzahl der Anschläge mit zweistelligen Opferzahlen schellte in die Höhe. Die Vergeltung Israels spitzte sich in den vergangenen Tagen in der Besetzung Ramallahs und anderer palästinensische Städte zu und gipfelte in der Isolierung von Palästinenserführer Arafat und der nahezu völligen Zerstörung seines Amtssitzes. Scharon macht Arafat seit geraumer Zeit persönlich für die antiisraelischen Attentate verantwortlich. In wie hohem Grade Arafat diese Verantwortung persönlich trägt, vermag ich nicht zu sagen. Dass er Verantwortung für die Eskalation der Gewalt trägt, erscheint mir plausibel. Gleichermaßen plausibel erscheint mir Scharons Verantwortung. Ob sich Arafat in den vergangenen Monaten gegen weitere Anschläge aussprach, weiß ich nicht. Wenn, wie ich annehme, emotionale Faktoren wie Demütigung, Stolz und daraus resultierender Trotz eine Rolle spielten, dann dürften sich Arafats aktive Friedensappelle und -bemühungen in engen Grenzen gehalten haben. Für eine solche Vermutung spricht auch die persönliche Feindschaft Scharons gegenüber Arafat, von der in den vergangenen Wochen wieder verstärkt berichtet wurde. Scharons Aussagen am Tag vor dem 31.01.2002 sprechen darüber eine deutliche Sprache. Heute wie damals spricht aus den Reaktionen der US-Regierung auf Scharons Politik mehr Verständnis als Kritik. Klare Äußerungen von US-Präsident George W. Bush zum Standpunkt der USA erfolgen erst morgen - dies ist aber zum Teil sicher auch durch die Zeitverschiebung bedingt.
Scharon bezeichnet Arafat heute als einen Feind der freien Welt. Eine recht großsprecherische, generalisierende Aussage, die vielleicht etwas weiter greift als Scharons bisherige Äußerungen, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall keine Aussage, die mich wundert. Was aber mit der anderen Äußerung? Verwendete Scharon die Formulierung "totaler Krieg gegen den Terrorismus" tatsächlich? Kann man, wenn man ihn sehr, ja zu gutmütig auslegt, eine sprachliche Entgleisung annehmen? Oder liegt eine Sinnentstellung durch Übersetzung aus dem Hebräischen vor? Bevor über diese Fragen Klarheit besteht, will ich zumindest den ersten meiner beiden Folgegedanken nur mit vorsichtiger Zurückhaltung anreißen: (1) Ein totaler Krieg, ausgerechnet vom führenden Politiker Israels, von einem Juden erklärt - was für eine verstörende Vorstellung! (2) Ein totaler Krieg gegen den Terrorismus. In der "Totalversion" etwas Neues. Kein totaler Krieg gegen eine Glaubensgemeinschaft oder eine Ethnie, sondern gegen einen "-Ismus". Nun, Terrorismus ist kein abstraktes Konzept wie eine philosophische Denkschule, auch ist er - meistens zumindest - keine selbsttragende Staatsidologie. Terrorismus ist sehr konkret und hat mit der Zerstörung von Sachgegenständen und dem Töten von Menschen zu tun. Er ist vom Krieg nur mit Mühe zu unterscheiden, eine allzu klare definitorische Abgrenzung fehlt meines Wissens. Daher setze ich einmal bewusst die Begriffe gleich und komme zur Formulierung "totaler Krieg gegen den Krieg". Davon kann erstens keine Rede sein, zweitens ist die Vorstellung absurd: Ein radikaler Vernichtungsfeldzug gegen den Mangel an Friedfertigkeit bei der Gegenseite. Wie soll das denn bitte gehen?
Ich gestehe ein, ich habe mit denjenigen Teilen der Friedensbewegung, die einen völligen Verzicht auf jegliche Form militärischer Gewalt befürworten, so meine Meinungsverschiedenheiten. Normalerweise halte ich mich mit Aussagen zurück, die in diese Richtung weisen. Speziell im hiesigen Falle finde ich jedoch die folgende, in der Vergangenheit aufgeschnappte englische Sponti-Äußerung unbekannter Quelle sehr erwähnenswert, trotz - oder gerade wegen - ihrer derben Deutlichkeit: "Fighting for peace is like f***ing for virginity." "Geschlechtsverkehr für die Jungfräulichkeit" ist sicherlich genauso absurd wie "totaler Krieg für den Frieden".
Wann, so möchte man fragen, wann gibt es aus Nahost wieder einmal von wirksamen und folgenreichen Entscheidungen zu berichten, die man unter dem Begriff friedfertiger Vernunft zusammenfassen könnte? Das umfassende Land-gegen-Frieden-Angebot der arabischen Staaten an Israel in den letzten Tagen (volle Anerkennung Israels gegen Räumung der besetzten Gebiete) fällt in eine Zeit so großer Gewalteskalation und militärischer Anspannung, dass es trotz einiger Hoffnungen bislang chancenlos bleibt. Schade, dass es nicht in eine Phase der gegenseitigen Entspannung fällt, wie es sie vor gar nicht allzu vielen Jahren einmal gab. Hoffen auf eine solche Phase in der Zukunft fällt in diesen Tagen zunehmend schwer.
Tübingen, 31.03.2002 - Peter Liehr
Frankreich: Auf heute einsetzende antisemitische Anschläge in Frankreich gehe ich morgen ein.
Tübingen, 01.04.2002 - Peter Liehr