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Städte- und Gemeindepartnerschaften chronologisch

Montag, 20.08.2018

Kirchheim unter Teck / Rambouillet

Deutsch-französische Ferienwoche

Sevrier, Hochsavoyen, Rhône-Alpes, Frankreich: 12. deutsch-französische Ferienwoche in Sevrier am Lac d'Annecy. Der Vormittag steht zur freien Verfügung.

Rottenburg am Neckar, 17.08.2018 - Peter Liehr

Stadtführung in Annecy

Annecy, Hochsavoyen, Rhône-Alpes, Frankreich: Am Nachmittag trift sich die Gruppe um 14:00 Uhr am Quai de Bayreuth in Annecy zur Teilnahme an einer sowohl französisch- als auch deutschsprachigen Stadtführung, zu der einige aus der Gruppe per Fahrrad hinfahren, befindet sich doch entlang der gesamten westlichen Seeseite des Lac d'Annecy eine zum Fahrradweg umfunktionierte ehemalige Eisenbahnstrecke, die das Radfahren zum besonderen Genuss werden lässt.

Rottenburg am Neckar, 17.08.2018; Sevrier, 21.08.2018 - Peter Liehr

Die zweisprachige Stadtführerin geleitet die Gruppe die Gassen und den Kanälen des auch als Klein-Venedig der französischen Alpen bekannten Annecy entlang und erklärt zunächst die in einer mittelalterlich-europäischen Stadt allgemein auffälligen Unterschiede zwischen den Stadtbereichen außer- und innerhalb der Stadtmauer. Nur innerhalb der Mauern wurde Handel getrieben, weshalb nur dort zum Schutze der Händler Arkaden errichtet wurden.

Speziell in Annecy gab es einst - bei einer damaligen Einwohnerzahl von lediglich etwa 5 000 - bis zu 22 Kirchen und Klöster, u.a. deswegen, weil nach Calvins protestantischen Reformen im unweit im Norden gelegenen Genf viele der katholischen Geistlichen, Mönche und Ordensfrauen nach Annecy kamen. Die Rolle von Annecy als "kleines Rom in den Alpen" wurde so begründet. Nebst der heutigen Kathedrale zeugen nach wie vor drei große Kirchen in der Altstadt von dieser Zeit. Eine darunter, ein außen schlichter, geradezu plump wirkender Sandsteinbau, wurde erst im Nachhinein seiner innen schlichten Holzdecke entledigt. Das anstelle der Holzdecke errichtete, schwere Steinbogengewölbe drückte die Außenmauern, die seinem Gewicht nicht gewachsen waren, jedoch so stark und einsturzgefährdend auseinander, dass von außen eiligst stützende Mauerelemente angebracht wurden und der Zustand eines bauchig nach außen gedrückten Chorraums bewahrt werden konnte. Mitte des 20. Jahrhunderts förderten Restaurierungsarbeiten ein 1458 entstandenes, zwar nicht als Fresko gestaltetes, aber dennoch sehr plastisch wirkendes Wandgemälde, das eine Grablege darstellt, zutage. Es handelt sich um eines der frühesten, in Frankreich auffindbaren Bilder, in dem die Perspektive Anwendung fand - eine in Italien und Flandern schon weitaus früher anzutreffende Darstellungstechnik. Das unsignierte Gemälde stammt Forschervermutungen zufolge von einem Schüler von Konrad Witz. Außerhalb der Kirche zu sehen ist, dass einer der beiden künstlich geschaffenen Ablaufkanäle des Lac d'Annecy die Kirche durch ein unterhalb des Chorraums geschaffenes Sandstein-Kanalgewölbe unterquert - eine nicht unriskante Bauweise, deformiert sich Sandstein doch leicht durch Feuchtigkeit, die in ihn eindringt.

Nebst den künstlich geschaffenen Kanälen ist der ebenfalls kanalartig eingefasste natürliche - und größte - Seeablauf charakterbildend für die seenahe Altstadt, deren Häuser einst über Wassertore verfügten und direkt mit Booten angesteuert werden konnten. Die vorgelagerten, malerischen Kanalrandpromenaden wurden erst später geschaffen, weshalb die Häuser einst - ähnlich mittelalterlichen Burgen - aus den Außenmauern herausragende Aborte hatten, über die die Notdurft direkt in den Kanal verrichtet wurde. Einige wenige, heute noch erhaltene dieser Aborte zeugen davon, wie sehr Annecy in früheren Zeiten stank und von schmutzigen Abwässen durchflossen wurde - ein von wassernahen Gewerben wie der Gerberei, die für weitere Wasserverschmutzung sorgten, noch verstärkter Missstand, der nicht nur Annecy selbst betraf. Bis in die 1950er Jahre hinein gab es in keiner der Städte und Gemeinden am Ufer des Lac d'Annecy Kläranlagen - alle Abwässer flossen direkt in den See, dessen vollständiges Umkippen in eine quasi sauerstofflose Kloake letztlich jedoch durch eine große gemeinsame Kraftanstrengung der Seeanrainergemeinden verhindert wurde. Die Einsicht, wie wichtig es sei, den See zu retten, führte zum Bau einer riesigen Ringleitung, mittels derer sämtliche um den See anfallenden Abwässer nach Annecy geleitet wurden. Am dadurch inzwischen eher untiefen Grund des größten Seeabflusses führt die Leitung zu einer großen, nord-nordöstlich des Stadtzentrums gelegenen Gemeinschaftskläranlage. Konsequenz: Die Fischbestände erholten sich, und der Lac d'Annecy ist seither stabil und zuverlässig der sauberste See Europas.

Den Besuch wert ist auch das auf einer Insel des Seeabflusses gelegene, wehrhaft-fensterarme Steingebäude, dessen knapp über Kanalniveau befindliche unterste Etage einst als Gefängnis diente. Die Gefangenen wurden seinerzeit diskret per Boot durch eine aufs Wasser weisende Außentür herbei- und fortgebracht, Aufruhr in den engen Altstadtgassen konnte so vermieden werden. Solange nicht auch die obere Etage als Gefängnis genutzt wurde, tagte dort das städtische Gericht. Heute ist das Gebäude städtisches Museum und bezeugt sowohl seine einstige Nutzung als auch die Stadtgeschichte insgesamt.

Die Außenbereiche der innen ebenfalls museal aufgearbeiteten Burg von Annecy bieten einen weitläufigen Blick über das rote Dächermeer der Stadt, die hohen Gipfel südöstlich hinter dem See und die nördlich und nordöstlich gelegenen, im Vergleich dazu nur wie mäßig-hügelige Erhebungen anmutenden, aber dennoch beachtlichen Berge, hinter denen der Genfer See liegt. Oben auf der Burg erläutert die Stadtführerin die derzeitige Situation der insbesondere auf Feinmechanik spezialisierten Industriestadt Annecy, in der der Tourismus als zweit- oder drittwichtigste Einnahmequelle ebenfalls eine zentrale Rolle spielt.

Fazit der Stadtführung: ein immenser, über Stadt, See und Umfeld erworbener Wissensschatz, vermittelt durch eine begeisterte und begeisternde Person, der es in exakt vier Stunden gelingt, in stetem Wechsel zwischen deutsch- und französischsprachiger Erklärung kein Detail in einer der Sprachen auszulassen. Sowohl als ortskundige Expertin als auch als Dolmetscherin und Sprachmittlerin brilliert die unermüdliche Stadtführerin, der am Ende der Führung anzumerken ist, dass das, was sie gerne an weiterem vermittelt hätte, noch längst nicht zur Neige geht. Ihr Verweis auf die Bedeutung von Städtepartnerschaften wie derjenigen zwischen Kirchheim und Rambouillet sowie der bereits über ein Jahrzehnt länger bestehenden Verwschwisterung zwischen Annecy und Bayreuth wie auch ihr Appell, Hoffnung und Gestaltungswillen auf Europa zu richten, um den innereuropäischen Frieden zu sichern, klingen in den Ohren der Teilnehmenden nach.

Sevrier, 21.08.2018 - Peter Liehr

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