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Geschichte, Zeitgeschichte, Politik und Kultur chronologisch

Gedanken und Notizen zum Samstag, 09.11.1918

Deutschland

Novemberrevolution, Ende der Monarchie

Deutschland kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges: Novemberrevolution. Die vor sechs Tagen von Marineoffizieren in Kiel ausgegangene und vor zwei Tagen in Bayern in die Republik-Proklamation gemündete revolutionäre, gegen den aussichtslos gewordenen Ersten Weltkrieg aufbegehrende Stimmung greift in Berlin in Form eines Generalstreiks um sich und führt so auf Reichsebene zum Sturz der Regierung.

Berlin, Deutschland kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges: Demonstrierende Militärs und Proletarier füllen in Scharen das Regierungsviertel. Die Abdankung des Kaisers Wilhelm II von Deutschland wird erklärt - nicht von ihm selbst, sondern von Reichskanzler Max von Baden, der sich dazu gezwungen sieht. Er überträgt Friedrich Ebert (SPD) die Regierungsverantwortung. Die im Reichstag stärkste Partei SPD stellt sich so an die Spitze der revolutionären Bewegung. Scheidemann proklamiert zugleich die demokratische Republik Deutschland, um den Befürwortern einer Räterepublik russisch-sowjetischen Zuschnitts zuvorzukommen.

Reutlingen, 25.07.2004; Tübingen, 15.01.2009; Tübingen-Bühl, 08.11.2009 und 15.08.2010; Rottenburg am Neckar, 12.10.2013 - Peter Liehr

Deutschland kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges: Matthias Erzberger erhält die Waffenstillstandsbedingungen.

Tübingen, 07.11.2005 - Peter Liehr

Württemberg, Deutschland kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges: Nach der Abdankung des deutschen Kaisers wird der Volksstaat Württemberg ausgerufen.

Tübingen-Bühl, 29.11.2005 - Peter Liehr

Paris, Frankreich: Tod des Dichters Guillaume Apollinaire.

Tübingen-Bühl, 26.08.2005 - Peter Liehr

Schweiz

Dornach

Vortrag Rudolf Steiners zu seinen Auffassungen über die Ursachengeschichte des Ersten Weltkriegs

Dornach, Schweiz: Rudolf Steiner hält einen Vortrag zur Ursachengeschichte des Ersten Weltkriegs [Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe, Band 185a (Entwicklungsgeschichtliche Unterlagen zur Bildung eines sozialen Urteils), S. 9-36], dessen Inhaltsaussagen ich im Folgenden grob nachzuzeichnen bemüht bin. Steiner wird das Vortragsthema auch in den folgenden Tagen weiter verfolgen.

Zu Anfang seiner episodischen Zeitgeschehens-Betrachtungen betont Steiner die schädliche, abträgliche Wirkung der Anwendung der Schuldfrage auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Insbesondere argumentativer Missbrauch bei der diesbezüglichen Urteilsfindung zum Erreichen von Partikularinteressen ist ihm schmerzlich, die Wirkung auf Moralempfinden und Urteilsfähigkeit betrachtet Steiner als verheerend. Einseitig den Mittelmächten die Kriegsschuld zuzuweisen ist ihm zufolge nicht im Geringsten sinnvoll. Wenngleich er nicht "bis zu Adam und Eva zurückgehen" will, möchte er über den zum Krieg führenden Impuls des österreich-ungarischen Ultimatums an Serbien (Folge der Ermordung Erzherzog Franz Ferdinands) hinaus in die Vergangenheit blicken auf die Okkupation Bosniens und der Herzegowina durch die Donaumonarchie im Jahr 1878, mandatiert durch den Berliner Kongress, den seinerseits Steiner wiederum als Folge des russisch-türkischen Kriegs in den 1870er Jahren charakterisiert.

Zur Frage, wieso die Donaumonarchie überhaupt dazu veranlasst werden konnte, Bosnien und die Herzegowina zu besetzen, verweist Steiner auf die slawischen Bevölkerungsanteile Österreichs zum Balkan hin, die sich verbundenen fühlten mit den besetzten Gebieten, in denen sich wiederum ein slawisch-türkisches Bevölkerungsgemisch in einem diffus-unklaren Untertänigkeitsverhältnis zur Türkei befunden habe. Die diese Untertänigkeit zeitweilig störenden Unruhen seien, anders, als in Europa aufgefasst und von einem verunsicherten Österreich-Ungarn als Okkupationsgrund verstanden, nicht zuerst gegen die Türken gerichtet gewesen, ihre Ursache sei komplexer - und zudem von großer Bedeutung. Die vorhandene Unzufriedenheit mit den Türken hätte allein genommen nicht zur Entstehung dieser - durch die europäische Presse im übrigen stark überdramatisiert dargestellten - Unruhen ausgereicht, impulsiert habe sie die anstiftende Hilfe verschiedener hoher, vornehmlich slawischer Militäroffiziere, die mit dem Aufstand vor dem russisch-türkischen Krieg in Zusammenhang standen.

Die okkupative Hinwendung Österreichs hin zum slawischen Raum sei der Berliner Politik insofern dienlich gewesen, als die Donaumonarchie dadurch ein mehr slawisches Gepräge hätte erhalten und das Problem der bestehenden, hegemonial als problematisch empfundenen Fokussierung zweier Reiche auf die deutschsprachige Bevölkerung hin hätte gelindert werden können.

Außergewöhnlich sei die Okkupation Bosniens und der Herzegowina angesichts des nicht-imperialistischen Menschencharakters der deutlich dagegen gestimmten, jedoch zugleich gemütsmäßig wenig energischen Deutschen Österreichs. Kontrastierend zu diesen verweist Steiner auf die seiner Auffassung nach in der Zielverfolgung von rücksichtslosem Chauvinismus charakterisierten Magyaren im K.-und-K.-Staat, dessen slawische Bevölkerung hingegen - auch diejenige in den betreffenden Grenzgebieten in Balkan-Richtung - keinerlei imperialistische Neigungen aufgewiesen habe, so Steiner mit Verweis auf eine Rede Otto Hausners im Jahre 1879.

Die Slawen in der Donaumonarchie hätten anstelle okkupativer Außenneigungen eine innere nationale Kulturpolitik verfolgen und sich dabei auch nicht mit den Slawen des zaristischen Russland verbinden wollen. Eine entsprechende, für Österreich-Ungarn bedeutsame Hinwendung sei erst nach dem Sturz des Zaren erfolgt. Eine Entfaltung der Slawen innerhalb Österreichs sei durch die in vieler Hinsicht schlampige Politik der Donaumonarchie verunmöglicht worden - Grund für Unzufriedenheits-Gärungen, die sich bekanntlich zur Unzeit und am Un-Ort zu entladen pflegen, so Steiner sinngemäß.

Einen großen Krieg hätte die betagte und in ihren Fähigkeiten begrenzte K.-und-K.-Staatsführung gewiss nicht angestrebt, so Steiner: "[...] solche Unfähigkeit beschließt keine Kriege." [Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe, Band 185a, S. 21].

Rudolf Steiner kommt daraufhin auf die kriegsförderliche Rolle der seiner Auffassung nach imperialistisch einer Weltherrschaft zuneigenden englischsprachigen Bevölkerung der Welt sowie auf die in der finanzkrisengeplagten Donaumonarchie vorhandenen Verlockungen zu sprechen, der Wirtschaft durch einen Krieg wieder aufzuhelfen. Als manipulativ impulsgebende Kriegsinteressenten seien in beiden Staatsgebilden hinter den Regierungen stehende Mächte aus dem laut Steiner bereits seit Jahrzehnten die eigentliche Herrschaft innehabenden Finanzwesen sowie aus dem Unternehmerwesen zu suchen, nicht die geschwächt auftretenden Regierungen selbst. Durch die Unruhen im Ethnien- und Wirtschaftsgefüge sei die Zeit äußerst passend gewesen für solche kriegstreiberischen Absichten (Wirtschaftspolitik mittels Heeren) aus einer Wirtschaft heraus, die sich zu willfährigen Instrumenten gemacht habe folgende Staatswesen:

  • Deutschland, dessen zu Unrecht als bedeutend angesehener, zu manipulierbarer, gedankenlos-großsprecherischer Rede neigender Kaiser Wilhelm II "Theaterpolitik" betrieben habe, nicht zuletzt in realitätsfern inszenierten Militärmanövern, in denen die kaiserliche Seite qua Prinzip zu siegen und die Gegenseite zu verlieren hatte.
  • Österreich-Ungarn, dessen Politik im Wesentlichen der Methode des Sich-Durchwurstelns, bis gar nichts mehr geht, gefolgt sei.
  • Russland, dessen Herrscher gleichermaßen instrumentalisierbar gewesen sei.

"[...] Pulverfässer, in die man nur einen Zündfunken hineinzutun brauchte" [Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe, Band 185a, S. 26], seien so nebst einer Bereitschaft österreichischer Finanzmanager zum kriegspolitisch-spekulativen Hasardeurspiel um die Wahrscheinlichkeit eines russischen Angriffs auf die Donaumonarchie entstanden.

Die Schwäche des deutschen Kaisers Wilhelm II verdeutlicht Rudolf Steiner anhand der mit dem späteren Kriegsgeschehen zusammenhängenden Daily-Telegraf-Affäre bzw. Berliner Palastrevolution im Oktober 1908 - Steiners Äußerungen hierzu umfassend zu zitieren lohnt:

"Da nahm sich ein englischer Journalist des Daily Telegraf vor, den Kaiser Wilhelm zu interviewen. Vielleicht war das dem Kaiser Wilhelm etwas langweilig, und da hat er denn dem Journalisten gesagt: ach, er habe ja schon so viel über sein Verhältnis zu England geredet. - Er hat ihm dann einiges gesagt und riet ihm dann, das andere auch zusammenzustellen, was er sonst schon über England gesagt habe. Und da stellte denn der Journalist ein ausführliches Interview zusammen.

Dieses Interview, das ist ein Prachtstück einer Politik. In diesem Interview - ich kann es nur dem Sinne nach, es würde sonst zu ausführlich werden, ein bißchen charakterisieren - wurde gesagt: Ihr Engländer seid eigentlich alle verrückte Hühner, denn ihr beurteilt mich und meine Politik ganz falsch. Wenn ihr die Wahrheit erhalten wolltet, so müßtet ihr doch einsehen, daß es in ganz Deutschland nur einen einzigen wirklichen Freund der Engländer gibt, und das bin ich; sonst seid ihr im übrigen Deutschland eigentlich die verhaßtesten Menschen. Und ihr sollt nur ja nicht glauben, daß ich irgend etwas jemals gegen die englische Politik getan habe. Denn man bedenke nur das eine: Als der Burenkrieg losging, da schaute ich mir die Situation etwas an bei den Buren, dann nahm ich einen Stift und skizzierte rasch den Feldzug, den die Engländer machen mußten gegen die Buren, um ihn möglichst glücklich fertig zu bringen. Dann übergab ich die Karte, die ich entworfen hatte, meinem Generalstab. Er arbeitete sie weiter aus; ihr könnt sie wirklich noch in euren Archiven drüben finden. Ich habe auch wirklich bemerken können, wie der Krieg der Engländer gegen die Buren nach dieser von mir ausgeführten Karte geführt worden ist und verlaufen ist. Im übrigen sollt ihr durchaus nicht glauben, daß ich irgendwie jemals etwas gegen die englische Politik gemacht habe, denn mir sind angeboten worden Bündnisse von Frankreich und von Rußland; die haben mir den Auftrag gegeben, ja nicht darüber zu reden, aber ich habe es gleich meiner Großmutter gesagt, und daraus sieht man, wie ich die Engländer eigentlich liebe, und wie ich wirklich der einzige Freund Englands bin. Nur mir habt ihr es zu verdanken, daß dieses Bündnis zwischen Frankreich und Deutschland und Rußland nicht zustandegekommen ist. Und wenn ihr glaubt, daß ich gegen euch eine Flotte baue, irrt ihr euch; meine Flotte soll dazu dienen, den Interessen Japans im Stillen Ozean entgegenzutreten. - Nun, also dieses ganze Interview wurde von dem englischen Journalisten zusammengeschrieben und Wilhelm II. gezeigt, der es sehr gut fand. Er schickte es dem Fürsten Bülow, der dazumal sein sogenannter Reichskanzler war. Fürst Bülow war gerade zur Sommerfrische in Norderney und sagte: Ach ja, das ist ein dickes Interview von S. M.; der kann doch nicht verlangen, daß ich mir meine Sommerfrische mit dem Lesen seiner überflüssigen Ausführungen verderbe. Was S. M. sagt, damit brauche ich mich nicht erst zu beschäftigen. - Er gab es einem Unterbeamten, ohne besondere Weisung. Und die Sache kam eben bald zutage, da der englische Journalist das wirklich im Daily Telegraf veröffentlichte. Und nun war die Geschichte fertig, nicht wahr, ein Prachtstück einer deutschen Politik. Es kam dann dazu, daß sich selbst die Konservativen gegen S. M. auflehnten, und daß es dazumal sehr nahe an der Abdankung war. Aber er hat sich dann bereit erklärt, nicht mehr zu reden, was so ausgedrückt wurde, daß er ferner für die Kontinuität der Politik sorgen würde. Es ist nur eine andere Ausdrucksweise dafür gewesen. Nun ja, das dauerte drei Monate, dann fing er wieder an zu reden; es war die alte Geschichte. Das nur zur Charakteristik." [Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe, Band 185a, S. 29-30]

1914 sei, wie Steiner meint, die uneinsichtige und schlechte Regierung Deutschlands so weit gekommen, "dass sie überhaupt nicht mehr regierte, dass sie geschehen ließ, was kam" [Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe, Band 185a, S. 31] und - erschreckende Lage - der Heeresleitung nun das eigentliche Regieren oblag. Zugleich führe der trivial leicht erbringbare Beweis der Kriegsunschuld der Mittelmächte zu keinerlei zielführenden Denkrichtungen, so Steiner, der dementgegen für eine akribische Analyse der Ereignisse in den letzten Julitagen des Jahres 1914 in Berlin plädiert, die vom fragenden Bemühen gezeichnet gewesen seien, in der verheerenden und nicht mehr überblickten Lage irgendwie doch noch (bloß wie?) zu handeln.

Jenseits eines solchen Ausnahmezustandes wäre es laut Steiner niemals zu etwas als Kriegserklärung Auffassbarem gekommen. In Berlin sei man im letzten Schritt - u.a. aufgrund der Automatismen militärischer Pflichterfüllung - "in den Krieg hineingerutscht" [Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe, Band 185a, S. 32]. Die nach seiner Auffassung klare Abwegigkeit des Gedankens, deutscherseits könnte irgendjemand einen Präventivkrieg gewollt haben, illustriert Steiner mit dem von Anfang an bekannten, Rationierungen nötig machenden Munitionsmangel.

Steiner charakterisiert den durch die Marne-Schlacht zum Misserfolg gewordenen Einfall in Belgien als Unrecht auf deutscher Seite und zeigt sich zugleich überzeugt, dass es durch eine Offenlegung und sodann genaue Analyse der Berliner Entscheidungen der letzten Juli- und ersten Augusttage (28.07.-01.08.1914) ganz gewiss historisch belegbar werden würde, dass England und dort namentlich Lord Grey, hätte er dies gewollt, den deutschen Einfall in Belgien hätte verhindern können.

Rottenburg am Neckar, 12.10.2013 - Peter Liehr

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