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Gedanken und Notizen zum Samstag, 13.10.2001

Afghanistan: Fortführung der Angriffe gegen die Taliban und Al Quaida.

Deutschland: Am Ende des gestrigen und bis weit in den heutigen Tag hinein bringt mich die Beantwortung eines E-Mails, das mir sehr direkte, konkrete Fragen stellt, intensiv zum Nachdenken. Dabei wird mir selbst klarer, wo ich im Moment keine klare Antworten, keinen festen Standpunkt finde. Zugleich bin ich mir freilich auch über folgendes im Klaren: Auch der bewusste Verzicht auf eine festgelegte Position ist wiederum selbst ein Standpunkt. Der Inhalt des Mails (unter Unkenntlichmachung des Absendernamens) kann hier nachgelesen werden:

Date: Sat, 13 Oct 2001 03:25:13 +0200 (CEST)
From: peter@peter-liehr.de
To: Z.
Subject: Re: Kollateralschäden

On Fri, 12 Oct 2001, Z. wrote:

> Salut Peter,
>
>
> Deine Meinung als Christ ist gefragt. Was sagt die Bibel dazu?
>
> Dürfen wir als Christen einfach billigend Kollateralschäden in Kauf
> nehmen, d.h. das unschuldige Sterben nicht beteiligter, unschuldiger
> Zivilisten in Afghanistan als Folge der amerikanischen Luftangriffe?
> Wo ist da die Diplomatie?
> Ist die Reaktion der U.S.A. als christlisch einzustufen?
> Sind Vergeltungsschäge aus der Luft, die sich auch gegen unschuldige
> Zivilisten richten, wirklich christlich und eine gerechte /
> angemessene Antwort?
>
> Vielen Dank für Deine christliche Meinung.
>
> Mit freundlichem Gruß
>
> Z.
>

Hallo Z.,

einige Gedanken zu Deiner Frage:

1. Als Mensch, nicht nur als Christ, kann ich das Sterben unschuldiger
Zivilisten nicht vertreten, wirklich nicht.

2. Ich weiß nicht, ob sich da in vorrangiger Weise "der Christ" in mir
äußert, ich denke, da ist eher ein interreligiöser Wesenszug in mir,
ein Wesen also, das sich gar nicht vollständig religiös festlegen
will, gerade um einfühlsam und verständnisvoll mit Menschen verschiedener
Religionszugehörigkeit reden und zwischen ihnen vermitteln zu können. Die
Gelegenheit dazu sollte ich öfter suchen. Ich habe das früher schon
gemacht, und gerade jetzt wünsche ich mir das wieder. [Leider braucht
so etwas sehr viel Zeit. Zeit, die ich gerne hätte.]

3. Die internationale Diplomatie schweigt. Schweigt, weil ihr angesichts
der Monstrosität der Anschläge in den USA der Atem stockt und der Mund
offen stehen geblieben ist. Und der ist ihr von der polarisierenden
Forderung der USA, von jetzt an gäbe es nur noch entweder Freunde oder
Feinde, zusätzlich noch im Übermaß gestopft worden. [Ich weiß auch nicht,
warum ich hier spontan angefangen habe, in Metaphern zu schreiben. Aber
ich denke schon, dass das meinen momentanen Eindruck vermitteln kann.]

4. "Sind Vergeltungsschläge aus der Luft, die sich auch gegen unschuldige
Menschen richten, wirklich christlich?" Nach der Lehre, die in den
katholischen und evangelischen Kirchen, die ich kenne, in den letzten
Jahren gepredigt wurde und die ich im Religionsunterricht mitbekommen
habe, können sie wohl nur schwerlich als christlich gedeutet werden. Aber:
"Sage mir, welcher Interpretation der Bibel Du anhängst, und ich sage Dir,
wie sie sind." - die Luftschläge: christlich oder nicht. Eine taktierende
Antwort, und keine ganz faire obendrein, gewiss. Wir sollten uns aber der
Auslegungsbedürftigkeit bewusst sein. Der Auslegungsbedürftigkeit
aller religiösen Schriften: der Bibel, des Korans, der Bagavad Gita, der
Upanischaden, des tibetanischen Totenbuches; buddhistischer,
hinduistischer, australisch-ureinwohnerischer, indianischer
und anderer Glaubenslehren, meinetwegen auch des Buches Mormon und
religigiöser Schriften von Glaubensgemeinschaften, die in der christlichen
"Definitionshoheit" unter dem Begriff Sekten subsumiert werden. Was tu'
ich hier gerade? Ich bemühe mich angesichts des Ernstes der Sache und mit
dem Wunsch, eine Antwort auf drängende Fragen zu finden, im Moment um
höchstmögliche weltanschauliche Neutralität, und hoffe, dass ich damit
keine religiösen Gefühle verletze. Falls doch, dann verzeih' bitte.
Kurzum: Welches Testament schlägst Du auf? Und welche Kapitel darin? Und
wo setzt Du in Deiner Auslegung die Schwerpunkte? Große religiöse
Schriften, und darunter auch ganz besonders die Bibel, haben eben oft die
Eigenheit, dass sie keine kohärenten Werke eines einzigen Autors sind,
sondern Sammlungen von Texten, die sich oft vielfältig widersprechen. Ich
bin leider kein Korankenner, aber wie mir zu Gehör gekommen ist, soll der
Koran um ein gutes Stück weniger vieldeutig sein als die Bibel. Das ist
jetzt kein religiöses Werturteil, sondern ein Betrachtungsaspekt von
vielen, d.h. das macht den Koran der Bibel gegenüber zunächst einmal weder
besser noch schlechter.

Zurück zu den Militärschlägen. Ich komme so nicht zügig zu einer Antwort,
ob sie "christlich" sind oder nicht. In diesen Tagen ändern sich viele
Dinge auf der Welt, und bislang Selbstverständliches erscheint plötzlich
fraglich, und im Gegenzug versuchen viele, gerade im politischen Umfeld,
bislang Fragwürdiges nunmehr als selbstverständlich erscheinen zu
lassen. Das dürfte auch kräftigen Gegenwind für die bisherige Auslegung
religiöser Schriften bedeuten.

Ein weiterer Gedanke: Dieser Konflikt ist nicht vorrangig ein religiöser
Konflikt. Es gibt aber starke Interessen, ihn dazu zu machen. Deshalb
sollten wir bei religiöser Argumentation ein besonderes Fingerspitzen- und
Taktgefühl walten lassen. Je mehr wir es in unseren Köpfen zulassen, dass
es ein religiöser Konflikt wird, desto mehr wird es einer - und desto
mehr, denke ich, laufen wir Gefahr, in den Sog des Weltbildes von
Schwarzweißdenkern und Demagogen zu geraten, welcher religiösen Couleur
auch immer.

Das Weltbild der Attentäter hat an erster Stelle andere als religiöse
Ursachen, aber Religion half mit, es aufzubauen und zu stützen. Nur: Wären
Abgrenzungen zwischen Kulturkreisen weniger stark ausgeprägt, wären
Lebensverhältnisse und Entfaltungschancen gleichmäßiger verteilt auf der
Welt, dann wäre der religiöse Einfluss auf diejenigen, die jetzt zu
grausamen Attentätern geworden sind, womöglich ein anderer gewesen.

5. Sind die Militärschläge angemessen? An der Tübinger Stiftskirche hing
nach den Anschlägen auf New York ein Blatt mit der Aufschrift: "Wahre
Größe wäre es, jetzt nicht zurückzuschlagen." Da spricht meinem Gefühl
nach spontan schon einiges dafür. Aber wirklich durchdacht habe ich diese
Aussage noch nicht. Ich denke, die "Argumente", die den militärischen
Vergeltungsschlag in seiner jetzigen Form bestimmen, sind zu starken
Teilen auch "systemimmanente Zwangsläufigkeiten", wobei das "System" wohl
zu beachtlichen Teilen im dialogarmen bis verständnislosen "Aneinander
Vorbeileben" der sogenannten "islamischen" und der sogenannten "westlichen
Welt" verwurzelt ist. Aus einer idealistischeren Sicht, die diese ungute
Ausgangslage nicht anerkennt, sind die Militäraktionen also äußerst
unangemessen und verwerflich.

Idealisten und Menschen mit Mut zum Frieden sind wichtig, gerade auch
jetzt. Nur leider sind momentan die Grundlagen für Frieden so dürftig
gesät, dass die Mittel zum Handeln sehr eingeschränkt sind. Was wir
aber tun können, ist einer Eskalation des Konflikts in den eigenen Köpfen
vorbeugen. Wir können Ausländer treffen, mit Menschen unserer eigenen und
anderer Religionen reden und durch Verständnis einerseits Brücken bauen,
andererseits, wo nötig, auch den kritischen Umgang friedlicher Art
miteinander erlernen.

Du merkst, mir fehlen derzeit die klaren Antworten, Z., und diese
Zeilen sind auch eine Form des Ringens um Meinung. Wenn Du wissen willst,
was ich damit meine, dann lies' den Abschnitt "Eine Art
Gebrauchsanweisung" auf meiner Homepage.

In diesem Sinne hoffe ich, dass ich morgen schon wieder ein wenig schlauer
bin. Auf jeden Fall will ich nach Möglichkeit weder resignieren noch
zynisch werden.

Herzliche Grüße

Peter

Tübingen, 13.10.2001 - Peter Liehr

Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland: Heute fahre ich auf die Frankfurter Buchmesse und verbringe dort recht viel Zeit in Diskussionen mit dem Standpersonal zweier moslemischer Verlage. Die Trennung der verschiedenen Ausrichtungen und Glaubensauslegungsarten ist dabei klar zu erkennen, und zwar

  • bei den Anhängern des derzeit inhaftiertern "Kalifen von Köln", Metin Kaplan, einer radikalen Ausrichtung, hauptsächlich anhand der verteilten, stark polarisierenden Flugblätter. Einige Besucher, darunter ich, diskutieren an dem kleinen Bücherstand, stellen Fragen, die in ihrer groben Richtung vielfach auf Gegensätze zwischen der Islamauffassung der Kaplan-Anhänger und der Staatsform der Bundesrepublik Deutschland abzielen. Die Antworten bleiben teils vage, weisen aber in anderen Teilen auch in aller Klarheit darauf hin, dass die Bundesrepublik, insbesondere hinsichtlich der Trennung von Religion und Staat, aus Sicht der Kaplan-Anhänger mit dem Koran nicht vereinbar ist.
  • bei den Anhängern reformislamischer Denk- und Koranauslegungsrichtungen besonders anhand der offenen Diskussionskultur. Derjenige, mit dem ich am Bücherstand diskutiere, tut sich offensichtlich mit der Trennung von Religion und Staat nicht schwer: Religionsausübung und Staatswesen beeinflussten sich zwar vielfältig, auch ergänze und befruchte sich beides gegenseitig. Es seien jedoch separate Bereiche.

Dass die einen die anderen nicht "mögen", dass weder Anhänger radikalislamischer Glaubensansätze reformislamische Tendenzen für richtig halten noch umgekehrt, wird bei beiden Bücherständen entweder explizit oder unterschwellig geäußert. Wie zu erwarten war.

Frankfurt am Main; Tübingen, 13.10.2001 - Peter Liehr

Metin Kaplan wird zur Last gelegt, zum Mord an einem Berliner "Gegenkalifen" aufgerufen zu haben. Außerdem wird ihm in der Türkei zur Last gelegt, für den 29.10.1998 einen nicht zur Ausführung gekommenen Anschlag eines Selbstmordattentäters auf das Atatürk-Mausoleum geplant zu haben.

Tübingen-Bühl, 17.01.2005 - Peter Liehr

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