Tübingen, Baden-Württemberg, Deutschland: SWR-Liederfest im Landestheater Tübingen. Es tritt neben Danny Dziuk und "Dziuks Küche" sowie "W. Igel" auch Konstantin Wecker auf, der sich in seinen Liedern und Zwischenkommentaren u.a. engagiert gegen Diskriminierung und Ausgrenzung von Minderheiten, gegen ungezügelte Vorherrschaft von Markt und Börse ("wildgewordene Fondsmanager"), für friedliche Konfliktlösung und gegen US-amerikanische Kriegspläne im Irak (Krieg als "Bombengeschäft", vgl. meine Einträge zum 19.11.2002) ausspricht. Andererseits werden seine Äußerungen im Rahmen seiner in einigen Fällen durchaus gerechtfertigten Kritik an den USA bewusst antiamerikanisch. Wecker steht zu dieser Haltung - und ich kritisiere sie in meinen Eintragungen zum 29.10.2002 (wie hiesige Äußerungen "nachgereicht" am 10.12.2002) im Zusammenhang mit der von Spiegel-Autor von Henryk M. Broder behandelten Frage, ob Antiamerikanismus intellektuelle Trägheit sei.
Tübingen, 10.12.2002 - Peter Liehr
Wecker ruft in seinen Liedern und Meinungsäußerungen dazu auf, sich zu entscheiden, wem man den Vorzug gebe: Der Freiheit des Marktes (Krieg als "Bombengeschäft", 19.11.2002) oder der Freiheit des Geistes. Er versteht aber unter Geist nicht rein rationales Denken. Würden wir ausschließlich unserem diskursiven Verstand folgen, so wären wir wohl eher dazu bereit, der Zerstörung der Welt zuzustimmen als der des Bildes, das wir uns von ihr gemacht haben. Da mag schon einiges dran sein, dennoch komme ich an diesem Punkt ins Zweifeln und halte meiner eigenen Empfindung nach analytisches Denken für wichtiger als die von Wecker geforderte stärkere Schwerpunktsetzung auf Emotionalität und Sinnlichkeit im Denken. Die Formulierung "meiner eigenen Empfindung nach" steht hier mit Absicht und zeigt, dass auch ich an diesem Punkt hadere und schwanke, mir also in dieser Schwerpunktsetzung nicht völlig sicher bin. Vorrangig sinnliches sowie einseitig emotionales Denken führen, so denke ich jedenfalls, ebenso tief in eine Sackgasse wie rein rationales Denken - ebenso wie reines Glauben, also ausschließlich religiöses Denken. Wenn man sich nun die Mühe macht, das Denken mittels solcher Adjektive zu kategorisieren (und womöglich gar einigermaßen "wasserdicht" definitorisch voneinander abzugrenzen), gehe ich doch wieder davon aus, dass Mischformen wichtig sind. Die eine Art zu denken sollte den übrigen Arten Raum lassen, sie nicht ausschließen. Eine Einseitigkeit besteht aus meiner Sicht vor allem dann, wenn man dem rein rationalen Denken Sensualismus, sinnliches und empfindsames Denken entgegensetzt, ohne von vornherein eine Verbindung von beidem zu suchen. Ich habe das vor ein paar Jahren erschienene Erfolgsbuch Emotionale Intelligenz nicht gelesen, jedoch hin und wieder über die Formulierung nachgedacht. Zu einem festen Schluss, ob die Begriffe "Emotion" und "Intelligenz" auf diese Weise tatsächlich zusammengebracht werden können, bin ich bislang nicht gekommen, hege daran eher Zweifel. Nun kann aber sicherlich weder ich selbst noch irgendjemand anders der Forderung an sich selbst, "denkerisch ausgewogen" zu sein, jemals wirklich gerecht werden, charakter- und situationsbedingte Schieflagen wird es da immer geben, und ich hoffe sogar, dass ich Sie, werte Leserinnen und Leser, in die Lage versetze, die bei mir auftretenden Unausgewogenheiten, die ich selbst nicht erkenne, aus diesen und meinen übrigen Aufschrieben herauszulesen, zu erkennen und Ihre Schlüsse daraus zu ziehen.
Tübingen, 19.11.2002, 15.01.2003 und 30.03.2003 - Peter Liehr