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Geschichte, Zeitgeschichte, Politik und Kultur chronologisch

Gedanken und Notizen zum Dienstag, 29.10.2002

Thema Antiamerikanismus

Deutschland: "Ist Antiamerikanismus intellektuelle Trägheit?" Klickt man im Dezember 2002 auf diese Frage in Spiegel online, so stößt man auf dem Umweg über dazu gehörige Leserbriefe auf einen provozierenden, lesenswerten Kommentar vom 29.10.2002 von Henryk M. Broder. "Your wonderful capacity to endlös conflicts - Über den keimenden Anti-Amerikanismus und die moralische Überheblichkeit in Deutschland". Sicherlich, gerade nach dem 11.09.2001 wird man, äußert man sich öffentlich, sehr leicht in Schubladen gesteckt, und genau das tut Broder mit Beispielen, die sich geradewegs dazu anbieten. Auch ist es nicht einfach, sich kritisch in Bezug auf die von Bundeskanzler Schröder wenige Tage nach den Anschlägen auf World Trade Center und Pentagon gegebene Zusage "uneingeschränkter Solidarität" mit den USA auszusprechen, ohne sogleich antiamerikanisch assoziiert zu werden (16.09.2001).

Meiner Auffassung nach gibt es aber durchaus Unterschiede zwischen der Haltung "amerikakritisch" und "antiamerikanisch". Bedauerlich finde ich, dass viele Amerika-Kritiker mit der Zeit eben doch die Grenze zum Antiamerikanismus übertreten, ohne dass Ereignisse eingetreten wären, die diesen Übertritt zu einer - nenne ich sie mal sehr zurückhaltend "verschärft amerikakritischen Haltung" - aus meinem Blickwinkel konkret begründen könnten. Broder bringt ein Beispiel für dieses Phänomen, das er unter dem Begriff "Anti-Amerikanismus der gebildeten Stände, die alles relativieren und in die richtige Perspektive bringen, wie es "stern"-, "Zeit"- und SPIEGEL-Leser gerne tun", subsumiert. Er stützt diese Aussage mit einem Zitat aus einem der Online-Foren von diesen Magazinen und Zeitungen: "Dieser 11. September hat die Welt nicht verändert. Ähnliche und gar noch viel schlimmere Verbrechen gab es leider schon immer in der Menschheitsgeschichte." Broder behält in diesem Falle Recht, denn der Leserbriefschreiber / die Leserbriefschreiberin fährt folgendermaßen fort: "Jedoch hat noch nie ein Staatsgebilde so viel Kapital aus solch einem Vorfall geschlagen wie die USA." Wie der Verfasser / die Verfasserin sich dieses Satzes so sicher sein kann, ist auch mir schleierhaft, wirklich relativierend ist nur der ihm vorausgehende Teil der Äußerung.

Erinnert werde ich bei diesem Zitat an ein Konzert, nämlich das SWR-Liederfest am 16.11.2002, bei dem u.a. auch Konstantin Wecker auftritt - und sich vielfältig antiamerikanisch äußert. Wenn man Geschichtsbücher lese, so Wecker sinngemäß, dann käme man kaum umhin, antiamerikanisch zu werden. Gegenfrage: Wie viele Länder gibt es, bei denen man dies von gewichtigen Teilen ihrer Geschichte nicht entsprechend ebenfalls behaupten könnte? Auf Konzerten von Konstantin Wecker - den ich für einige, aber eben doch nicht alle seiner Lieder durchaus sehr schätze und dessen Kritik an den USA ich in einigen Punkten teile - ebenso wie auf Online-Foren von politisch eher links angesiedelten (wie auch anderweitig orientierten) deutschen Presseorganen hört und liest man vielfältige Beispiele von mehr oder weniger gut begründetem Antiamerikanismus.

Unterscheidung von "kritisch" und "anti"

Ich weiß a) nicht, ob ich zu dogmatisch bin, und denke b) nicht, dass ich opportunistisch bin, wenn ich mich danach frage, was Antiamerikanismus denn bringt außer einem Feindbild mehr, mit all seinen Risiken und möglichen Folgen.

Hätte ich seinerzeit - wäre ich früher geboren worden - antiamerikanisch werden müssen, wenn ich den Vietnamkrieg kritisiert hätte? Gründe für eine solche Haltung hat es sicher zu Genüge gegeben, und nicht zuletzt viele US-Amerikanerinnen und -Amerikaner selbst sind damals in starkem Maße antiamerikanisch im Sinne von Kriegsgegnerschaft geworden. Nur: Waren die wirklich antiamerikanisch? Nein, nicht zwangsläufig und keineswegs alle. Sie befanden sich in erster Linie in heftigem Widerstreit zu einem sehr grausamen und blutigen Teilaspekt ihres Landes, aber nicht unbedingt in Gegnerschaft oder gar Feindschaft zu den USA an sich.

Bin ich in der heutigen Zeit, wenn ich den Tschetschenienkrieg kritisiere (10.12.2002), antirussisch? Bin ich, wenn ich das nicht bin, antitschetschenisch? Bin ich, wenn ich den Israel-Palästina-Konflikt kritisiere, antiisraelisch? Antipalästinensisch? Vielleicht gar beides zugleich? Nein, so lange ich nicht in die gefährliche Mischung aus Vereinfachungen, Generalisierungen und Übertreibungen verfalle, die einen gewissen, in manchen Fällen beträchtlichen Anteil der Beiträge zu Online-Foren und Leserbriefspalten "auszeichnet", so lange muss "kritisch" nicht mit "anti" gleichbedeutend sein.

Ich bin, offen gestanden, wegen ihrer Unvollständigkeit nicht völlig zufrieden mit den oben stehenden Ausführungen, gibt es doch eine ganze Menge weiterer Aspekte in dem Kommentar von Henryk M. Broder, auf die ich gerne einginge oder von denen ich mich gerne zu weiteren Ausführungen "verleiten" ließe. Auch Broders gewollt spitze Polemik überspannt meiner Ansicht nach an einigen Stellen, besonders gegen Ende seines Kommentars, den Bogen. Nur: Mir fehlt die Zeit, näher darauf einzugehen, und ich muss diese Eintragungen zumindest im Augenblick zwangsläufig unvollständig lassen.

Rückblick: Einige amerikakritische Äußerungen meinerseits finden sich in den Eintragungen zum 04.10.2001, 09.10.2001 und 12.10.2001.

Tübingen, 10.12.2002 - Peter Liehr

Wie mir erst weit später auffällt, setzt sich Henryk M. Broder selbst ebenfalls mit Konstantin Wecker auseinander, und das mit der polemischen Direktheit, die die meisten seiner Schriften kennzeichnet:

Tübingen-Bühl, 27.09.2005 - Peter Liehr

Russland; Deutschland; Tschetschenien: Angesichts des am 23.10.2002 begonnenen und am 26.10.2002 blutig zu Ende gegangenen Geiseldramas in einem Moskauer Musical-Theater fordert der deutsche Bundeskanzler Schröder mit Blick auf die Lage in Tschetschenien eine politische Lösung für die gesamte Kaukasusregion. Aus Moskau gibt es indessen widersprüchliche Meldungen. 45 der 117 getöteten Geiseln seien erschossen worden, wird heute aus Moskau gemeldet - und später wieder dementiert. 41 der Erschossenen seien Terroristen gewesen, nur vier davon Geiseln. Es wird angenommen, dass die russischen Spezialeinheiten ein Nervengas verwendeten, das UN-Konventionen gemäß nicht genemigt worden wäre. Klarheit darüber herrscht jedoch nicht, die Informationspolitik Moskaus lässt zu wünschen übrig. Amnesty International fordert eine unabhängige Untersuchung der Vorgänge in Moskau.

Deutschland: Bundeskanzler Schröder sagt in einer Regierungserklärung, Deutschland werde sich an einem Angriff gegen den Irak nicht beteiligen.

Weilheim an der Teck, 29.10.2002 - Peter Liehr

Deutschland; USA; Guantanamo Bay, US-Exklave auf Kuba; Türkei: Der deutsche Kanzleramtschef Frank Walter Steinmeier trifft sich mit den Vorsitzenden der deutschen Geheimdienste im Bundeskanzleramt zu Gesprächen, bei denen es offenbar auch um eine mögliche Freilassung des ehemals in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürgers Murat Kurnaz aus dem US-amerikanischen Häftlingslager von Guantanamo Bay sowie um seine mögliche Überstellung nach Deutschland geht. Aufgrund der angespannten Sicherheitslage wird eine Einreisesperre für Kurnaz' nach Deutschland erwogen und einer Überstellung in die Türkei vorgezogen, die Kurnaz allerdings auch nicht haben will. [vgl. auch Monatsübersicht]

Tübingen-Bühl, 27.01.2007 - Peter Liehr

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