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Geschichte, Zeitgeschichte, Politik und Kultur chronologisch

Gedanken und Notizen zum Donnerstag, 04.10.2001

"We are a free people. We deserve better."

Ein paar rückwärts gewandte Gedanken, die mir zum Teil auch kurz nach dem Bekanntwerden der Katastrophe vom 11.09.2001 durch den Kopf gingen - und das Selbstverständnis der USA aus einem etwas kritischeren Blickwinkel betrachten als in diesen Tagen üblich. "We are a free people. We deserve better." Dieser Satz fand sich am Tag nach der Katastrophe in den Washington Times im Leitkommentar. Etwas Besseres verdient als eine solche Katastrophe haben die Vereinigten Staaten sicherlich. Nur womit ersetzt der Leser den hier auftauchenden, offenen Komparativ? "Wir haben etwas Besseres verdient als die Bananenrepubliken dieser Welt?" (Den etwas unfairen Begriff habe ich absichtlich gewählt, um eine mögliche Denkrichtung aufzuzeigen.) "Als die Länder und Krisenregionen dieser Welt, in denen Terroranschläge, Krieg, Elend und Gewalt zum Alltag gehören?" Solcherlei Denken ist mit Nachdruck abzulehnen.

Eine der Gefahren für ein Land, das sich in seiner Rolle als Supermacht oft als "the greatest nation in the world" betrachtet, liegt darin, aus diesem Selbstverständnis heraus schon von vorn herein unterbewusst andere Staaten, Regionen und Volksgruppen als weniger wert zu betrachten. Doch der Wert eines Menschenlebens unterscheidet sich keinesfalls anhand solcher Herkunftskategorien. So sehr uns die Katastrophe von Manhattan - unter anderem auch durch ihre medienwirksame Darstellbarkeit - beeindruckt und unser Entsetzen in Bann hält, so wenig dürfen wir vergessen, dass Katastrophen und menschliches Leiden sich in anderen Teilen der Welt ebenso entsetzlich auswirken, auch wenn wir sie nicht so plastisch vor Augen geführt bekommen.

Worin gleichen und wodurch unterscheiden sich

  • der Tod eines Kindsoldaten in Burma?
  • die Erschießung einer Flüchtlingsfrau in Srebrenica (11.07.1995)?
  • das Verhungern eines Familiengroßvaters in der Sahelzone?
  • das Hitzetod eines Wall Street Bankers im Inferno des World Trade Centers?
  • das Ertrinken eines Bauern in einem Hochwasser in Bangladesh?
  • der Tod einer palästinensischen Gemischtwarenhändlerin im Gaza-Streifen?
  • oder derjenige eines jüdischen Taxifahrers und Siedlers in den umstrittenen Gebieten des Nahostkonflikts?
  • [...]

In all diesen Fällen handelt es sich um Einzelschicksale von Menschen, denen man wünschen möchte, es wäre ihnen besser ergangen. Und zwar ausnahmslos. Ohne auf ein wie auch immer geartetes "besser" oder "schlechter" Rücksicht zu nehmen, sei es moralischer, religiöser, finanzieller oder sonstiger Art. "We are a free people, we deserve better." ist folglich, was seine innere Logik angeht, kein angebrachter Satz, in New York ebenso wenig wie anderswo.

Die Unterschiede zwischen den Opfern liegen

  1. in den Gründen für ihr Schicksal (Krieg, Bürgerkrieg, Terror, Fundamentalismus - oder Umwelt- und Naturkatastrophen bzw. Unfälle).
  2. in unseren Köpfen und Herzen (kulturelle und / oder emotionale Nähe oder Ferne).

Die Unterschiede in unserer Wahrnehmung der verschiedenen, vor ihrer Zeit verstorbenen Menschen liegen in starkem Maße in der emotionalen Nähe bzw. Ferne, die wir, noch am Leben, zu ihnen empfinden. Ein Grund also, warum auch ich als Mitteleuropäer und Deutscher, Bewohner eines zwar anderen, dem US-amerikanischen jedoch in vielen Bereichen ähnlichen Kulturkreises von den Anschlägen in New York und Washington innerlich besonders berührt wurde, davon also offenbar stärker "berührbar" bin als von manch anderer so genannten "humanitären Tragödie" unfassbaren Ausmaßes. Seien wir uns solcher emotionalen Prädispositionen bewusst. Es geschieht viel Leid auf unserem Planeten. Im Großen wie im Kleinen. Fast überall. Leisten wir also nach Kräften unseren kleinen, bescheidenen persönlichen Beitrag dagegen - insbesondere auch vorbeugend. Und zwar durchaus auch in den Bereichen, zu denen wir eine besondere Verbundenheit empfinden. Jedoch auf alle Fälle nicht nur dort.

Israel; Russland: Die Meldung des Absturzes eines russischen Charterflugzeuges über dem Schwarzen Meer, unterwegs von Tel Aviv, Israel, nach Sibirien, löst natürlich wieder Mutmaßungen über weitere Anschläge aus demselben Lager wie im Falle New York aus. Wieder sind auf tragische Weise Menschen ums Leben gekommen, diesmal 78. Es wird auch über eine fehlgeleitete Luftabwehrrakete eines ukrainischen Militärmanövers als Absturzursache spekuliert. US-amerikanische Satellitenbilder legen dies offenbar nahe, und die Annahme setzt sich in den folgenden Tagen zunehmend durch.

Es ist schon eigenartig, wie ich mich in diesen Tagen mit anderen zu Gesprächen oder zum Lauschen vor dem Radio treffe. Die Haltung erinnert mich an diejenige von Zeitgenossen des Zweiten Weltkrieges, die sich vor Volksempfängern ängstlich-erwartungsvoll über die neuesten Entwicklungen erkundigten und dabei möglichst intensiv "zwischen den Zeilen zu hören" bemüht waren. Das, was ich empfinde, würde ich jedoch eher Sorge nennen als Angst.

Tübingen, 04.10.2001 - Peter Liehr

Über Krieg

USA: "The New American War". "America at War". Titel US-amerikanischer Medien. Krieg. Aber was für ein Krieg? Ein wenig erinnert mich das nun entstehende Gefühl an den Kalten Krieg. Der Feind ist nicht unmittelbar greifbar, aber die Atmosphäre aus Unsicherheit, Bedrohung und militärischer Bereitschaft zuzuschlagen ähnelt doch sehr einem Lebensgefühl, das bis vor zwölf Jahren zumindest in Deutschland herrschte. Wenn es auch im Unterschied zu damals keine klaren Blockgrenzen und zum Glück auch keinen Eisernen Vorhang gibt. Interessanterweise wird der US-Verteidigungsminister morgen die Situation mit demselben Vergleich einschätzen.

Tübingen, 04.10.2001 und 05.10.2001 - Peter Liehr

Über Hilfslieferungen

USA; Afghanistan: Die USA haben eine Aufstockung des Etats für Hilfslieferungen an die afghanische Bevölkerung um ein Vielfaches des bisherigen Etats beschlossen. Die Nahrungsmittel und Medikamente sollen entweder direkt verteilt oder per Flugzeug abgeworfen werden. Hinweise auf den anstehenden Winter (Mitte November) häufen sich, es müssen also schnellstmöglich Hilfslieferungen ins Land gebracht werden, bevor schlechtere Witterungsverhältnisse a) das Leiden verstärken und b) den Zugang zu bedürftigen Gebieten erschweren.

An Hilfslieferungen für Afghanistan ist sicherlich keinerlei Kritik angebracht. Hilfe für ein Land mit einer in Elend lebenden Bevölkerung entspricht ethisch-moralischen Vorstellungen, die nicht in Frage gestellt werden können und in weit greifendem Konsens von verschiedensten Religionsgemeinschaften geteilt werden. Zu beobachten bleibt dennoch, in welchem Ausmaß es sich hier um politisierte humanitäre Hilfe handelt. Die Hilfe ist nötig, darf aber nicht dazu dienen, ein politisches Vakuum zu überdecken. Ebenso wenig ist sie tauglich als rechtfertigendes Gegengewicht für Angriffe mit sogenannten "Kollateralschäden" (schönfärberischer Begriff für Tod und Verletzung von Unschuldigen bzw. Zerstörung von deren Eigentum. Der Begriff ist mir bislang noch nicht von offizieller Seite her zu Gehör gekommen, und ich hoffe, dass das so bleibt. Ich nenne ihn hier aber mit Absicht trotzdem, um genau auf diesen Punkt hin kritische Aufmerksamkeit zu wecken.).

Tübingen, 04.10.2001 - Peter Liehr

2003 stellt sich im Irak das Problem politisierter humanitärer Hilfe erneut - und womöglich weitaus konkreter. Ich gehe darauf am 27.03.2003 ein.

Weilheim an der Teck, 27.03.2003 - Peter Liehr

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