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Geschichte, Zeitgeschichte, Politik und Kultur chronologisch

Gedanken und Notizen zum Dienstag, 09.10.2001

Afghanistan: Die Militäreinsätze werden nun auch tagsüber geflogen. Dabei sterben auch insgesamt vier Mitarbeiter der UNO und einer anderen Organisation, allesamt Spezialisten zur Beseitigung von Landminen, die in einem Gebäude in der Nähe eines Funkübertragungsturmes untergebracht waren. Talibanisches Abwehrfeuer zwingt in einigen Fällen Flugzeuge zum Abdrehen. Zeitungsartikel der Washington Post: "US Attack Kills 4 Civilians in Kabul". Die Nando Times berichten zu diesem Vorfall unter dem Titel "Front: U.S.-led forces strike Afghanistan for third day": Dort heißt es, US-Verteidigungsminister Rumsfeld habe die Todesopfer bedauert, sich aber nicht entschuldigt. Er wird folgendermaßen zitiert: "Gäbe es einen einfachen Weg, terroristische Verbindungen in Ländern auszumerzen, die sie beherbergen, so wäre das ein Segen. Es gibt ihn aber nicht." Der führende Republikaner des Armed Services Committee des US-Senates, Sen. John Warner, wird mit der Aussage zitiert, dies sei etwas, das im Krieg nun einmal vorkomme.

Pakistan; Palästinensische Gebiete: In Pakistan nehmen die pro-talibanischen Kundgebungen (trotz Verboten) an Stärke zu. Auch in den Palästinensergebieten kommt es zu solchen Demonstrationen, obwohl Palästinenserführer Arafat strikte Verbote erlassen hat. Palästinensische Polizei schießt auf palästinensische Extremisten, es kommt zu Toten und Verletzten.

Oman; Indonesien; Philippinen: In Oman, Indonesien und auf den Philippinen kommt es zu antiamerikanischen Protesten. Moslems, insbesondere auch moslemische Studenten und Islamschüler, gehen auf die Straße.

Deutschland: Ein Anschlag in Deutschland (dessen Zusammenhang noch nicht geklärt ist): In der Nähe von Karlsruhe fährt ein Hochgeschwindigkeitszug vom Typ ICE über eine den Schienen liegende Metallplatte und kommt glücklicherweise sicher zum Stehen. Die Passagiere kommen mit dem Schrecken davon, der Unterbau des Zuges und der Gleiskörper werden demoliert. Eine Verbindung des Anschlages mit den momentanen weltpolitischen Ereignissen kann man erwägen, auch liegt ist eine Verknüpfung mit den morgen stattfindenden Atommülltransporten per Bahn aus deutschen Atomkraftwerken in die französische Wiederuafbereitungsanlage von La Hague nicht eben fern.

Tübingen, 09.10.2001 und 10.10.2001 - Peter Liehr

Ausblick: In zwei Jahren, am 22.10.2003 und am 05.11.2003 wird es zu vergleichbaren Sabotageanschlägen kommen.

Tübingen, 05.11.2003 - Peter Liehr

Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland: Erhöhte Sicherheitsmaßnahmen bei der morgen beginnenden Frankfurter Buchmesse. Insbesondere die Hallen mit US-amerikanischen und israelischen Verlagen sowie Verlegern aus der arabischen Welt werden besonders geschützt. Bei 31 von 800 US-amerikanischen Verlagen überwog dennoch die Skepsis. Sie sagten ihre Teilnahme ab.

Biologische Waffen? Nach einer kurzen Meldung in den Radio-Morgennachrichten auf SWR 2 kommen die Milzbrand-Erreger (Anthrax, galt ohnehin als ausgerottet), mit denen sich in Florida zwei US-amerikanische Journalisten infiziert haben, in der vorgefundenen Art nicht in der Natur vor. Einer ist bereits verstorben. Weitere Nachrichten zu Milzbrand folgen morgen.

Rom, Italien: Die Pfarrei St. Egidio in Rom, die bereits häufiger im religiösen Dialog von sich hat hören machen, hat eine interreligiöse Kommission eingerichtet und einige bedenkenswerte Punkte angesprochen, die ich mir, statt sie wiederzugeben, hier zum Anlass nehme, meinen eigenen Blickwinkel zu erläutern:

  • Terrorismus kann nur durch Beseitigung von Armut und weltweiter Ungerechtigkeit wirksam bekämpft werden.
  • Es handelt sich hier nicht um einen religiösen Konflikt. Mit dieser, auch von der Pfarrei St. Egidio vorgebrachten Einschätzung werde ich jedoch in den kommenden Tagen, d.h. schon morgen, ins Wanken geraten.
  • Es gibt verschiedene, nachvollziehbare auslösende Momente für Hass gegenüber den USA und der sogenannten "westlichen Welt" in der sogenannten "moslemischen Welt", die keineswegs vorrangig religiös fest zu machen sind, für die hingegen religiöse Argumentationslinien - beiderseits - oft missbräuchlich verwendet werden, leider allzu häufig zugunsten einer "Eskalation in den Köpfen".
    1. Ich denke da u.a. an die als einseitig pro-israelisch zu empfindende Haltung der USA im Nahostkonflikt (und in diesem Zusammenhang auch an den vorzeitigen Rückzug der USA und Israels von der Weltrassismuskonferenz wenige Wochen vor den Anschlägen von New York und Washington).
    2. Auch sehe ich zu pauschale Denkkategorien seitens der derzeitigen US-Regierung in Begriffen wie dem von den sogenannten "Schurkenstaaten". Mag solches Denken in Einzelfällen auch gerechtfertigt sein, so ist es doch diplomatisch betrachtet höchst fraglich, mit solch vereinfachenden Begriffen international Politik zu machen. Frieden und Verständigung dienen kann so etwas nicht.
    3. In einigen Punkten mangelt es US-Amerikanern an Bereitschaft zur eigenen, gleichberechtigten Einbettung in eine weltweite Staatengemeinschaft. So ist auch bei der Wahl eines US-Präsidenten außenpolitisches Profil meist kein Kriterium, und dafür gibt es Gründe, z.B. in den Medien. Problematisch sind die weit verbreiteten, als "soft news" bekannten Nachrichten, die in den werbefinanzierten Fernsehsendern gesendet werden. Und genau diese Sender werden von der Bevölkerungsmehrheit bevorzugt. Hier drängen die werbenden Unternehmen darauf, dass die Berichterstattung in den Nachrichten ihren Werbespots im Stil nicht zuwider laufen. Dies führt in der Tendenz zu einlullendenden, konsensverliebten Nachrichten. Als weitere logische Folge konzentrierten sich die Nachrichten bis zum 11.09.2001 sehr auf das Inland, aus dem es allein aufgrund seiner Größe auch stets genug zu berichten gibt. Umfassende Informiertheit in einem globalen Rahmen ist so natürlich nicht möglich. Und eine nun zu befürchtende, ebenso einseitige Konzentration auf sehr wenige Brennpunkte in der Welt kann genau so wenig einer ausgewogenen Meinungsfindung dienen.
    4. Zwar gibt es in einigen Ländern der "westlichen Welt" stark vorhandene, dennoch nach wie vor unzureichende Bemühungen, mit verschiedenen Teilen der Welt in kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Kontakt (unter gegenseitiger Berücksichtigung kultureller Eigenheiten) zu treten und nicht zuletzt ganz einfach menschlichen Austausch zu ermöglichen und zu pflegen. Auch in den USA sind solche Initiativen nur unzureichend in der Bevölkerung verankert, habe ich den Eindruck.
    5. Ein nur schwer lösbares Problem sind die Sanktionen gegenüber moslemischen Diktaturen wie dem Irak. Insbesondere solange darunter unschuldige Zivilisten leiden, können diese recht einfach zu einer stark polarisierten, "anti-westlichen" Haltung gebracht werden. Und weil davon Diktatoren profitieren (Machterhalt, Rückhalt für eigene Interessen), dürften sie dazu neigen, die Verarmung zumindest von Teilen der eigenen Bevölkerung eher zu fördern als einzudämmen, sie zumindest aber zu dulden. So entsteht auch dort ein pauschal einseitiger Begriff von "Schurkenstaaten" (als die z.B. die USA und Israel identifiziert werden), und wir bekommen so einen Eisernen Vorhang, der nicht in erster Linie duch Beton und Stacheldraht geographisch festgelegt ist, sondern vorwiegend aus Ideologien und weltanschaulichen Polarisierungen besteht. Volksgrupenzugehörigkeit, Weltanschauung, Freund- und Feindbilder - all das entsteht im Kopf, und der ist manipulierbar. Mein Problem andererseits: Mir fällt momentan auch keine Sanktionsalternative zu einem gezielten Embargo ein, die zur Zeit aus amerikanisch-westlicher Sicht z.B. dem Irak gegenüber gangbar wäre. Gleichzeitig halte ich auch vom derzeitigen Gang der Dinge ganz und gar nichts. Hier kann nur langzeitig etwas bewirkt werden. Der enge Weg zu besserem Kontakt führt wohl einzig über anti-ideologische Arbeit und kulturelle Kontakte, in deren Verlauf es wiederum fatal wäre, wenn sich eine der beiden Seiten als "etwas Besseres" zu präsentieren suchte. (Diese Gefahr besteht auf Seiten der USA und der "westlichen Welt" leider.) Gegenseitige Offenheit und Anerkennung des anderen als Mensch mit Vorlieben, Eigenheiten und Fehlern sind der richtige, "Schurkenstaaten-Denken" ist der falsche Weg, egal auf welcher Seite.

Obige Zeilen sollen keinesfalls antiamerikanisch gedeutet werden oder zu Antiamerikanismus Anlass bieten. Wichtig und der Sachlichkeit beim Umgang mit dem Konflikt zweckdienlich ist es, festzuhalten, dass die USA weder das großartigste Land der Welt sind noch Hort allen Übels, geschweige denn Hochburg des Unglaubens. Die USA betrachte ich als:

  1. eine Demokratie wie viele andere auch, mit großen Stärken und Schwächen.
  2. einen riesigen Staat, der durch seine Größe sowohl große Vorteile als auch ganz spezifische Probleme hat.
  3. eine Supermacht, die dadurch auch "Super-Verantwortungen" trägt und dementsprechende Entscheidungen zu treffen hat. Nur "leider" werden dort Entscheidungen auch nur von Menschen getroffen, und deren Fehler wirken sich manchmal (nicht immer) - und ebenso leider - auf die Betroffenen fataler aus als bei kleineren Staaten. Häufig wäre es wünschenswert, diese "Super-Verantwortungen" wären noch ein Stück weit fester im Bewusstsein der US-amerikanischen Bevölkerung verankert und hätten so ein stärkeres politisches Gewicht.

Tübingen, 09.10.2001 und 10.10.2001 - Peter Liehr

Weitere Erwägungen zu diesem Themenbereich folgen am 12.10.2001.

Tübingen, 12.10.2001 - Peter Liehr

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