Pakistan; Saudi-Arabien; Afghanistan; USA: Aus Pakistan und Saudi-Arabien kommt die Forderung, die US-amerikanischen Militäraktionen gegen Afghanistan sollten lieber früher als später beendet werden. Sie werden aber nicht direkt in Frage gestellt. In Reaktion auf diese Forderung wird sich morgen hingegen die Nordallianz ausdrücklich für eine unverminderte Fortführung der Militärschläge aussprechen.
Afghanistan: US-Kampfflugzeuge haben heute Nacht erneut Angriffe gegen die Taliban geflogen. Die Taliban-Regierung berichtet von Toten unter der Zivilbevölkerung.
Tübingen, 31.10.2001 - Peter Liehr
Die Spirale der militärischen Gewalt sei erschreckend, so die französische Zeitung L'Humanité. Die humanitäre Katastrophe sei keine Prognose mehr, sie sei schon da. Der bald einbrechende Winter werde in Kürze alles noch schlimmer machen. Die Bombardierung müsse aufhören, und die UNO müsse Entscheidungsträger für die Zukunft Afghanistans werden. Ich teile die Einschätzung der Lage, bin aber skeptisch angesichts dessen, in wie weit hiesige Forderungen momentan umgesetzt weden können. Mit anderen Worten: Kann die UNO so etwas leisten? Mir kommen die Probleme und Fehler bei UN-Missionen im kriegerischen Zerfallsprozess Ex-Jugoslawiens in Erinnerung. Außerdem: Wie kann die UNO mit den nach wie vor an der Macht befindlichen Taliban, wie mit Al Quaida umgehen? Am 05.11.2001 wird UN-Generalsekretär Kofi Annan auf Forderungen wie die von L'Humanité reagieren und eine mögliche Rolle der UNO für die Zukunft Afghanistans stark einschränken.
Tübingen, 30.10.2001 und 05.11.2001 - Peter Liehr
Die USA waren in den letzten Wochen sehr zurückhaltend mit Aussagen darüber, welchen Ursprungs die Milzbrand-Attentate sind. Gründe dafür werden heute genannt. Als Urheber der Milzbrand-Anschläge werden nämlich zunehmend Mitglieder von Gruppierungen der rechtsradikalen Szene innerhalb der USA vermutet ("Ku-Klux-Klan", "Arische Nationen" etc.), weniger islamische Extremisten. Mit letzteren verbindet sie jedoch der Hass gegen die USA und Israel, so dass ihnen - trotz ihres tief verankerten Rassismus - eine Bildung von Allianzen mit islamischen Terrorgruppen durchaus zuzutrauen wäre. Absurde "Logik" des Terrors! [Quelle: Bayerischer Rundfunk, Nachrichtenradio B5 Aktuell, 30.10.2001]
Tübingen, 30.10.2001 - Peter Liehr
Deutschland; Türkei: Genau heute vor 40 Jahren wurde das deutsch-türkische Anwerbeabkommen geschlossen, eine Vereinbarung der Regierungen beider Staaten über die Anwerbung türkischer Gastarbeiter nach Deutschland. Zuvor wurden solche Abkommen schon mit Spanien, Griechenland und Italien unterzeichnet. Es wurden vorwiegend ungelernte Arbeitskräfte für die produzierende Industrie angeworben, hauptsächlich für die Branchen Automobil, Maschinenbau, Textil etc. In einigen Fällen wurden die Gastarbeiter mit Blumen oder einer Musikkapelle am Bahnhof begrüßt, das darauf folgende Leben war jedoch oft von Einsamkeit und Heimweh geprägt. Damals gab es kaum Zugang zu Nachrichten aus der Heimat, der Postweg war lang und Telefonate dorthin meist unbezahlbar teuer, vorausgesetzt, die dortigen Angehörigen hatten überhaupt einen Telefonanschluss. In Deutschland ging man davon aus, dass die Gastarbeiter nach einer Weile wieder in die Türkei zurückkehrten und so durch eine Art Rotationsprinzip ausgetauscht würden. Dies erwies sich jedoch als Irrtum. Die Löhne waren im Vergleich zu denen in der Heimat hoch, und auch wenn gegenseitige Akzeptanz- und Toleranzprobleme beiderseits oft dazu führten, dass sich Deutsche und Türken aus dem Weg gingen und voneinander abschotteten, so verwurzelten sich die Gastarbeiter dennoch zusehends in Deutschland. Manche schafften den "Sprung zurück" auch einfach nicht mehr. Die Arbeitsbedingungen hingegen wurden in vielen Fällen zunehmend miserabel und ausbeuterisch, besonders nach den Zeiten von Familiengründung bzw. Familiennachzug - die gestiegene Abhängigkeit der Gastarbeiter von ihren Arbeitsplätzen und ihre schwache Lobby in der bundesdeutschen Gesellschaft ließen dies zu. Hierzu sind die engagierten, durchaus anklagenden Erfahrungsberichte von Günter Wallraff lesenswert, z.B. Ganz unten - deren reine Existenz jedoch wiederum auch zeigt, dass es neben allen gegenläufigen Tendenzen auch integrative Bemühungen gab. Dennoch: Die großen Schwierigkeiten, zu denen mangelnde Integrationshilfe von deutscher Seite sowie auch mangelnde Integrationsbereitschaft seitens der Gastarbeiter führten, will ich hier (freilich ohne Schuldzuweisungen) nicht kleinreden. Ein mittlerweile zum Glück abnehmendes, wenn auch teils noch vorhandenes Problem dieser Art ist die Beherrschung der deutschen Sprache. Nicht nur, aber auch in diesem Sinne möchte ich Sten Nadolnys Roman Selim oder die Gabe der Rede empfehlen. Er liest sich sehr angenehm und zeichnet gleichzeitig mit höchst gekonnt verschachtelten Erzählperspektiven und viel Humor einen weiten Bogen von den Anfängen der Gastarbeiterkultur in Deutschland bis zu den Folgegenerationen der 1990er Jahre. Seine Erzählhaltung empfinde ich dabei als respekt-, ja geradezu liebevoll und in keinster Weise herablassend.
USA: Die US-Regierung warnt vor absehbaren neuen Anschlägen gegen die USA oder US-amerikanische Einrichtungen im Ausland innerhalb der nächsten sieben Tage.
USA: In einer Hals-Nasen-Ohren-Ambulanz eines New Yorker Krankenhauses hat sich eine Mitarbeiterin mit einer gefährlichen Art von Lungenmilzbrand angesteckt. Sie arbeitete in der Nähe der Poststelle der Ambulanz, kam aber mit eingehender Post nicht direkt in Kontakt.
Tübingen, 30.10.2001 - Peter Liehr
Tübingen, Baden-Württemberg, Deutschland: Wenige Wochen nach dem Beginn jedes Semesters veranstaltet die moslemische Hochschulgruppe Tübingen einen für alle Interessierten offenen Teeabend, so auch heute wieder. Vor ein paar Semestern nahm ich schon einmal daran teil, des weiteren besuchte ich bereits häufiger Vorträge im Rahmen der vom islamischen Studentenverein regelmäßig veranstalteten Islamwoche an der Universität Tübingen. Dieses Jahr ist der Teeabend besonders stark frequentiert - und viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer verständlicherweise reichlich emotionsgeladen. Erstmals haben sich aus "journalistischer Neugier" (Zitat) auch zwei Zeitungsjournalisten - vom Reutlinger Generalanzeiger und vom Schwarzwälder Boten - unter die Teilnehmenden gemischt.
Nachdem sich jede und jeder in der Runde namentlich vorgestellt hat, ist der Hauptprogrammpunkt ein Vortrag zum Thema Jihad im Islam. Der von vielen westlichen Berichterstattern und folglich ihren Lesern ebenso wie von zahlreichen Moslems selbst missverstandene Begriff wird erläutert. Die häufig zu hörende Übersetzung als "Heiliger Krieg" hinke und sei völlig unzureichend, wenn sie auch in Teilen der Jihad-Auffassung extremistischer Muslime entsprechen mag.
Ein Zuhörer fragt, was eine Fatwa sei, wer sie aussprechen könne und wie verbindlich sie sei, und die Antwort macht deutlich, dass derjenige, der ein solches Dekret ausspricht, eine Reihe von Bedingungen erfüllen müsse, um dazu autorisiert zu sein. Den Wortlaut der Antwort habe ich nicht mehr im Kopf, und ich weiß daher nicht, ob ich mich hier in sinnentstellendem Maße kurz fasse, aber ich meine, herausgehört zu haben, dass zum Aussprechen einer Fatwa die religiöse Autorität erforderlich ist, die derjenigen einer religiösen Leitfigur vom Range eines Kalifen entspricht. Erforderlich sind auf jeden Fall tiefe und umfassende Kenntnisse der Lehren des Korans, also eine besonders ausgeprägte religiöse Weisheit. Zudem liege es in der Hand der einzelnen Muslime, an die sich die Fatwa richtet, sie persönlich und individuell zu prüfen und selbst zu entscheiden, ob sie sie für gerechtfertigt halten und es vertreten können, den damit verbundenen Forderungen nachzukommen.
Unter türkischen und anderen Studenten mit Vorfahren aus moslemischen Ländern herrscht weitreichende Verunsicherung und Skepsis bezüglich der Rasterfahndung als Methode zum Aufspüren islamischer Terroristen, insbesondere sogenannter "Schläfer". Auch wird bedauert, dass sich vieles des über Jahre erworbenen Vertrauens seitens der deutschen Bevölkerung gegenüber Türken, Muslimen und Deutschen mit türkischen Vorfahren über Nacht wieder verflüchtigt zu haben scheint. Man schaut sich öfter misstrauisch an bzw. wird mit schiefem Blick begutachtet. Angst und Skepsis bestimmen wieder häufiger das zwischenmenschliche Verhalten.
Im allgemeinen ist man sowohl unter den zahlreichen Moslems (vorwiegend Studierende an der medizinischen Fakultät) wie auch unter den weit weniger zahlreich anwesenden Nicht-Muslimen bestürzt und traurig über das, was am 11.09.2001 passiert ist, nicht minder aber auch über die Militärschläge gegen Afghanistan. Die Mehrheit ist für deren Beendigung. Daran, dass die unschuldige Zivilbevölkerung verschont wird, will offenbar niemand so recht glauben. Es wird Kritik darüber laut, dass Nachrichten, Feststellungen und daraus gezogene Handlungskonsequenzen, die von US-amerikanischer Seite kommen, viel leichter, ja oftmals "einfach so" akzeptiert werden, im auffälligen Kontrast zu Nachrichten und Reaktionen auf Nachrichten, die auf nicht-amerikanischer bzw. nicht-"westlicher" Seite ihren Ursprung haben. So findet auch die Feststellung eines der beiden anwesenden Journalisten breiten Anklang, bis heute seien uns immer noch keinerlei Beweise dafür vorgelegt worden, dass Bin Laden tatsächlich der Urheber der Attentate auf New York und Washington war.
Widerspruch und stirnrunzelnde Ablehnung löst die Auffassung eines Teilnehmers aus, er könne die ablehnende Haltung gegenüber der jetzigen afghanischen Regierung nicht recht verstehen, die Taliban seien als regierende Gruppierung doch vergleichsweise in Ordnung. Dem wird der Mangel an grundlegenden Freiheiten wie Meinungs- und Informationsfreiheit entgegen gestellt, außerdem kann sich offenbar niemand der Auffassung anschließen, den Frauen gehe es in Afghanistan jetzt besser als früher. Eine moslemische Studentin erzählt später, wie schockiert sie über den Umgang der Taliban mit dem kulturellen Erbe anderer Religionsgemeinschaften war, als in Afghanistan vor einiger Zeit unter internationalem Protest große, kulturgeschichtlich äußerst bedeutsame Buddhastatuen zerstört wurden.
Am Ende des Teeabends, als wir nach emotionsgeladenen Kleingruppengesprächen den Saal verlassen, bricht sich unter den Muslimen der Humor seine Bahn - als eine der verschiedenen Umgangsformen mit dem Erlebten. Schwarzer Humor und Ironie ("Du, pass' auf, ich bin ein Schläfer.") helfen ebenso, die Einwirkungen der veränderten Weltlage auf die eigene Person zu verarbeiten, wie spitzfindige Witzeleien über den eigenen "offiziellen Status" als Mensch ausländischer Abstammung mit bzw. ohne deutschen Pass ("Mensch, du bist doch jetzt keine Ausländerin mehr!"). Spät ist es geworden, die jetzt legere Stimmung erleichtert den Nachhauseweg. Die Sorgen und Bedenken aber werden schon morgen früh wieder so präsent sein wie in der heutigen Diskussion.
Tübingen, 01.11.2001 - Peter Liehr