Afghanistan: Die Nordallianz ist in Kabul einmarschiert. Unterstützt durch das anhaltende Bombardement von strategischen Punkten und Taliban-Stellungen durch die USA hat sie nun innerhalb weniger Tage ein Territorium eingenommen, zu dessen Einnahme die Taliban zuvor Jahre gebraucht haben. Zunächst rückten nur wenige, vergangene Nacht jedoch Hunderte Nordallianz-Kämpfer nach Kabul ein. Gleichzeitig zogen sich die Taliban aus der Stadt zurück. Die Gespräche unter den Nordallianz-Truppen drehen sich um Rache, "Tod den Taliban" wird skandiert. Vereinzelt fallen Schüsse. Es herrsche eine unwirkliche, nervöse Ruhe, so vermitteln es BBC-Berichte. Beträchtliche Teile der Bevölkerung stehen der neuen Macht mit Misstrauen und Skepsis, teils mit offenem Hass gegenüber. Viele Bewohner Kabuls heißen die einrückenden Truppen zwar auch willkommen, aber die Skepsis überwiegt. So wird bereits von Plünderungen und Hinrichtungen berichtet. Dies könnte Befürchtungen der USA bestätigen, wo gehofft wird, dass es keine Wiederholung der Situation der frühen 1990er Jahre geben wird. In dieser Zeit regierte die Nordallianz Kabul etwa drei Jahr lang auf zumindest fragwürdige, großenteils auch grausame Weise. 1994 - 1998 haben die Taliban die Macht über große Teile Afghanistans gewonnen. In Kabul wurden sie seinerzeit freudig von der paschtunischen Bevölkerung willkommen geheißen, selbst wenn ihre rigide bis menschenfeindliche Auffassung von islamischer Lebensführung nicht geteilt wurde. Das Ende der Nordallianz-Herrschaft war damals offenbar Hauptgrund der Freude.
Die größte ethnische Gruppe in Kabul und im Süden Afghanistans sind die Paschtunen, die auch die Mehrheit der Taliban stellen. Für inneren Frieden wird es wichtig sein, dass ein bedeutsamer Teil der künftigen Regierungsrepräsentanten aus dieser Gruppe gestellt wird. Die Paschtunen als ethnische Gruppierung dürfen sich nicht besiegt fühlen. Nur: Wie geht man in diesem Zusammenhang mit der Taliban um? Problematisch ist nämlich, dass die sie keine konventionelle Armee stellen bzw. darstellen. Sie können jederzeit leicht in der Bevölkerung unter- und ebenso leicht wieder aus ihr auftauchen.
Das schnelle Vordringen der Nordallianz überrascht viele, nicht zuletzt die Taliban, ebenso die Nordallianz selbst. Die USA sehen sich infolgedessen mit dem Problem konfrontiert, dass ihr zweifelhafter Anti-Terror-"Koalitionspartner" Nordallianz nun nach längerer Zurückhaltung plötzlich "zu erfolgrich" ist, wurden doch noch gestern von den USA Appelle an die Nordallianz gerichtet, nicht nach Kabul einzumarschieren. Trotz des starken US-amerikanischen Drucks bleibt zu befürchten, dass sie dort durch Schnellurteile und Hinrichtungen vollendete Tatsachen zu schaffen versuchen werden, und ich fände es unter dem Eindruck dieser Lage äußerst wünschenswert, wenn jetzt schnell eine provisorische Polizeitruppe (evtl. eine entsprechend ausgebildete US-Militäreinheit) dem Einhalt gebieten würde, in Kabul wie in Masar-i-Scharif. Eine Bodentruppe also, und dieser Begriff legt sicherlich begründete Skepsis und Zurückhaltung nahe, dennoch wäre sie jetzt immens wichtig.
Während der Berichterstattung von BBC World Service wird die Wichtigkeit einer Sicherheitstruppe diskutiert, die sich vorwiegend aus moslemischem Personal zusammensetzt, möglicherweise aus Nachbarländern. Bis dahin habe ich vergessen, mir die Frage nach dem Ruf zu stellen, den die USA in Kabul genießen. Die Haltung der Bevölkerung gegenüber den USA dürfte sehr gespalten sein, und eine Polizeieinheit, deren Autorität stets latent von Hass und Misstrauen untergraben ist, wäre natürlich keine konstruktive Lösung. Die Überlegung, moslemische Sicherheitstruppen einzusetzen, leuchtet mir unter diesem Vorzeichen durchaus ein. Es bleibt zu hoffen, dass dazu beherzte Menschen gefunden werden können, die unvorbelastet sind und weithin akzeptiert werden können.
Nicht zu vergessen bleibt, dass eines der Hauptkriegsziele der USA, nämlich die Ergreifung von Osama Bin Laden und seiner Terrororganisation Al Quaida, noch in keiner Weise erreicht ist. Aber auch für diese Gruppe dürfte es jetzt schwieriger werden, sich zu bewegen, ihre Interessen umzusetzen und ihre Position zu sichern.
Die humanitären Bedingungen nach dem eingebrochenen Winter dürfen nicht vergessen werden. Der Zugang zu Nordafghanistan ist nun vorhanden, was humanitäre Hilfe sehr erleichtern könnte. Es bleibt zu hoffen, dass sie jetzt mit Nachdruck in Angriff genommen wird. Die inhaftierten Shelter-Now-Mitarbeiter sind von den flüchtenden Taliban offenbar in ihre Hochburg Kandahar mitgenommen worden.
Die Taliban weisen Berichte zurück, sie hätten die Kontrolle über den Flughafen von Kandahar verloren.
Tübingen, 13.11.2001 - Peter Liehr
New York, USA: Heute wird der Datenrecorder des gestern in New York abgestürzten Flugzeuges gefunden. Die Auswertungen von Stimm- und Datenrecorder liegen jedoch noch nicht vor. Den Aufzeichnungen des Towers zufolge waren die Cockpit-Gespräche bis wenige Sekunden vor dem Absturz normal.
Tübingen, 13.11.2001 - Peter Liehr
Rechtlicher Hintergrund: Grundgesetz, Artikel 68.
In Deutschland treibt die von den USA erbetene Bereitstellung von Bundeswehreinheiten die Regierungskoalition unter dem Eindruck massiven Drucks von Seiten der Opposition zunehmend in die Krise. Es wird von einem Wutausbruch von Bundeskanzler Gerhard Schröder berichtet, als er erfährt, dass sich offenbar neben den vier "Abweichlern" in der eigenen Fraktion ganze zwanzig SPD-Abgeordnete noch nicht auf eindeutig auf eine Befürwortung des Einsatzes der Bundeswehr in der parlamentarischen Abstimmung am Donnerstag (übermorgen) festlegen lassen wollen. Nach gestrigen Berichten werden sich vier SPD-Abgeordnete und acht Grünen-Abgeordnete nach eigener Ankündigung dagegen aussprechen.
Bundeskanzler Schröder verknüpft nun doch noch heute die Vertrauensfrage mit dem Ausgang der Abstimmung über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Sollte die rot-grüne Koalition zu keiner eigenen Mehrheit dafür gelangen, dann wird die Opposition mit großer Sicherheit gegen eine Fortführung der Regierungskoalition stimmen. Neuwahlen wären möglicherweise die Folge. Die Lage ist problematisch. Überall haben sich in den letzten Tagen "Sollbruchstellen" gezeigt, sowohl in der Partei der Grünen als auch in der SPD selbst, jetzt in der gesamten Regierung, und es sieht danach aus, dass es durchaus auch Abgeordnete der Union gibt, die mit einem Militäreinsatz der Bundeswehr in Afghanistan ihre schwerwiegenden Probleme haben. Wer von den potentiellen "Abweichlern" - zur Zeit der am häufigsten für sie verwendete Begriff - schrecklich stigmatisierend, nicht wahr? - wer von den "Abweichlern" der Parteidisziplin den Vorrang geben und für den Einsatz stimmen wird, bleibt abzuwarten, die Entscheidung ist aufgrund einer gesetzlich vorgeschriebenen 48-Stunden-Frist zwischen dem Stellen der Vertrauensfrage und der darüber befindenden Abstimmung auf den Freitag, 16.11.2001 verschoben worden. Ich sehe es für Oppositions- wie Regierungsabgeordnete als problematisch an, bei derart gewichtigen Fragen das persönliche Gewissen Partei- oder Fraktionsdisziplinen unterzuordnen. Es besteht die Gefahr, dass die Grünen entlang der Linie zwischen Parteibasis und Regierungsfraktion zerbrechen, des weiteren kann es sein, dass sich verschiedene Landesverbände auseinander bewegen, je nachdem, ob sie für oder gegen den Militäreinsatz sind. Zwar stand und steht die bisherige Haltung der Grünen-Fraktionsspitze, für die Militärschläge zu werben, Überzeugungsarbeit in den eigenen Reihen zu leisten und gleichzeitig die Militärschlag-Gegner der eigenen Fraktion mit ihren Vorbehalten zu respektieren, in erster Linie auch unter diesem Druck, dennoch finde ich die Haltung richtig, kann doch keine Partei so einförmig sein, dass es in ihr zu solch wichtigen Entscheidungen nicht verschiedene Standpunkte gibt. Dass ich für die stark Polarisierten und Polarisierenden unter den Mitgliedern sämtlicher Parteien hier zu konsensverliebt und nicht streitbar genug argumentiere, ist mir durchaus sehr bewusst. Ihnen möchte ich in diesem Zusammenhang ans Herz legen, den Unterschied zwischen "streibar" und "zerstritten" nicht zu vergessen oder aufzuheben. Ein sowohl von Regierung als auch Opposition legitimierter Bundeswehreinsatz, bei dem sich in den verschiedenen Fraktionen eine parteiinterne Opposition als Kontrollinstanz zu Wort meldet, wird leider nicht für denkbar erachtet angesichts der Forderung nach einer eigenen Regierungsmehrheit sowohl von Seiten der CDU-Opposition als auch durch den Bundeskanzler selbst. Auch wenn die Frage nach der Handlungsfähigkeit der Regierung dann in Teilen berechtigt sein mag, wäre mir eine solche Lage immerhin lieber als die jetzige, in der unter einem enormen Druck auf die Entscheider zwei unter anderen Umständen äußerst verschiedene, voneinander unabhängige Entscheidungen auf ungute Weise miteinander verkoppelt werden, nämlich die für oder gegen den Erhalt der Regierungskoalition (also zu starken Teilen eine innenpolitische Machtfrage) und die für oder gegen einen Bundeswehreinsatz (also hauptsächlich eine Frage außenpolitischer Verantwortung und Machtausübung).
Tübingen, 14.11.2001 - Peter Liehr