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Geschichte, Zeitgeschichte, Politik und Kultur chronologisch

Gedanken und Notizen zum Donnerstag, 11.10.2001

Afghanistan: In der vergangenen Nacht war der US-amerikanische Beschuss Afghanistans, insbesondere Kabuls intensiver als während der vorausgegangenen Angriffe. Es seien u.a. auch die schwersten Bomben abgeworfen worden, über die die USA verfügen. Zumindest einer dieser durch Laser auf Bunker gesteuerten, zwei Tonnen schweren "Bunkerbuster" kam zum Einsatz. Die Taliban sprechen von zahlreichen Toten unter der Zivilbevölkerung, insbesondere in einem Dorf bei Jalalabad (die Zahlen 100 und 140 fallen), und die USA kündigen an, diese Angaben zu prüfen. Es ist jedoch fraglich, ob dies überhaupt möglich ist. Die Taliban hatten anfangs von 100 Toten in dem Dorf bei Jalalabad gesprochen. Die USA hätten es irrtümlicherweise für ein militärisches Trainingslager gehalten.

Deutschland: Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder bereitet in einer Regierungserklärung die deutsche Bevölkerung auf eine Beteiligung der Bundeswehr an den Militärschlägen vor und folgt in seinen Argumentationslinien weitgehend dem US-Präsidenten. Die Zeit zweitrangiger Hilfsleistungen sei endgütig vorbei. Solidarität dürfe sich nicht auf Lippenbekenntnisse beschränken. Die außen- und sicherheitspolitische Rolle Deutschlands wird sich also nachhaltig verändern. Ich wünsche mir und hoffe, dass sich Deutschland in seiner "neuen Rolle" nicht schwerpunktmäßig militärisch, sondern vielmehr kulturell, diplomatisch sowie als interreligiös-dialogfähige Demokratie einen berechtigten Ruf erwerben wird. Ein solcher Ansatz sollte gleich am Anfang stehen, und zwar gerade in einer Zeit, in der der innenpolitische Wunsch nach Sicherheit mit dem nach einer offenen Gesellschaft in Konflikt geraten ist.

Deutschland: Der deutsche Außenminister Joschka Fischer steuert den Gedanken bei, dass die Konflikte und ihre Folgen Geld kosten werden - und der Gedanke von Deutschland als "Niedrigsteuerstaat" überdacht werden müsse.

Afghanistan: Taliban-Führer Omar äußert sich erstmals nach Beginn der Militärschläge international-öffentlich. Seine Ansprache findet sich auf den Webseiten der Sender BBC und Voice of America.

USA: US-Botschaften werden angewiesen, Vorräte an Anti-Milzbrand-Mitteln anzulegen. In Florida ist eine dritte Person von Milzbrand befallen, eine Frau, die wie die anderen Betroffenen auch im journalistischen Umfeld arbeitet.

USA: Interessant ist das Interview mit einer Neuntklässlerin aus einer Schule in der Nachbarschaft des World Trade Centers, das heute, einen Monat nach den Anschlägen und am Tag der Wiedereröffnung ihrer Schule, von Radio BBC World Service gesendet wird. Die Einschätzung in ihrer Klasse gegenüber den im Gange befindlichen Angriffen: Etwa gleiche Anteile der Schüler befürworteten bzw. kritisierten die Militärschläge.

Tübingen, 11.10.2001 - Peter Liehr

Kabul, Afghanistan: Heute erstmals tagsüber US-amerikanische Luftangriffe auf die Stadt Kabul, u.a. auf den Flughafen. Streubomben werden eingesetzt. Laut britischen Angaben sind seit Beginn der Angriffe etwa 40 Ziele getroffen worden.

Tübingen, 11.10.2001 - Peter Liehr

Großbritannien; Afghanistan: Von britischen Verteidigungsexperten wird die Einschätzung geäußert, dass die Luftschläge möglicherweise noch bis weit in den kommenden Sommer (2002) hinein reichen könnten und dass sie auf jeden Fall noch den kommenden Winter über anhalten werden.

Deutschland: Mir fällt ein, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder vor ein-zwei Tagen die großzügige Aufnahme afghanischer Flüchtlinge in Deutschland angekündigt hat. Entwickelt sich die Lage weiter in die eingeschlagene Richtung, so wird mit weiter ansteigenden Flüchtlingsströmen zu rechnen sein, und das wird Folgen (nicht nur finanzieller Art) haben. Mir stellen sich da spontan einige "deutsch-innenpolitische" Fragen, die ziemlich viele unter uns angehen dürften:

  • Wie gut werden wir mit den Flüchtlingen umgehen?
  • Wie gut werden wir mit ihnen zurecht kommen?
  • Umgekehrte Frage: Wie gut werden die Flüchtlinge es schaffen, mit uns zurecht zu kommen? Dies auch angesichts dessen, dass sie aus einem zu unserem sehr verschiedenen Kulturkreis stammen.
  • Wie gut werden sie mit uns umgehen?
  • Werden die Deutschen es schaffen, während der Zeit des Aufenthalts von afghanischen Flüchtlingen hier zu Lande ein Denken in straffen Kategorien von "die" und "wir" zu vermeiden? Werden es die Afghanen zu vermeiden schaffen? Können wir so zusammen einer Ghettoisierung mit weiteren Folgeproblemen vorbeugen?
  • Wie viele unter den Flüchtlingen werden das Bedürnis verpüren, Konflikte in Deutschland (weiter) auszutragen?
  • Können wir dieses (möglicherweise vorhandene) Bedürfnis in dialoghafter Weise mit ihnen mindern, verhindern oder ihnen bei der Findung konstruktiver Formen von Konfliktfähigkeit helfen? Würde ein solcher Ansatz ihrerseits als "von oben herab" empfunden? Oder sind ihre Auffassungen und Denkformen dafür zu verfestigt? Und wie sieht das bei uns aus?
  • Werden sie uns als freundlich, als "Gastgeber" akzeptieren oder werden wir ihnen als Feinde erscheinen?
  • Wie sehr werden sich solche Einschätzungen ihrerseits ändern, wenn deutsche Soldaten sich an Militäraktionen beteiligen?
  • Wie schwierig wird es sein, mit der Sprachbarriere zurecht zu kommen?
  • Wird es sich vermeiden lassen, dass auch Religionszugehörigkeit zu einer Barriere wird?
  • Wie gut werden wir mit kulturellen Eigenheiten der Afghanen zurecht kommen?
  • Wie schnell werden sich in Deutschland Vertreter der Meinung zu Wort melden, das "Boot" sei "voll"? Wie nachhaltig werden diese Stimmen sein?

Derlei Fragen dürften in naher Zukunft relevant werden - und ihre Beantwortung, d.h. der konstruktive Umgang mit den enthaltenen Problemen wird auf jeden Fall beidseitige Anstrengungen erfordern.

Deutschland: Im Deutschen Bundestag und in zahlreichen Expertenrunden in den Medien werden Gesetzesänderungen diskutiert. Die innere Sicherheit steht zur Debatte. Bundeskanzler Schröder will, dass ein Personalausweis künftig den Fingerabdruck seines Inhabers enthält. Das Religionsprivileg im Vereinsrecht wird voraussichtlich abgeschafft. Geplante Überwachungsmaßnahmen werden intensiv diskutiert. Zur Debatte stehen:

  • Videoüberwachung (vgl. z.B. Mannheim und Regensburg)
  • Verstärkung der Polizeipräsenz
  • Rasterfahndung
  • Weitere Überwachungsmethoden
  • Kronzeugenregelung
  • Überwachung der Nutzung von Internet und E-Mail
  • viele andere Maßnahmen

Zugleich spiegelt die heutige Bundestagsdebatte in Form von hitzigen Äußerungen und (nicht nur gesetzesinterpretatorischen) Entgleisungen Unruhe und Nervosität der Abgeordneten wieder - Grundrechte kann man eben nicht verwirken. Der Umgang mit der Tatsache, dass die "Schläfer" als solche nicht zu erkennen waren, fällt schwer.

USA: Die USA haben innerhalb weniger Tage nun einen dritten Spionagesatelliten ins All geschossen. Über dessen genauen Zweck wird Stillschweigen gewahrt.

Jordanien; Deutschland: Der jordanische König Abdallah ist zu Besuch in Deutschland.

Tübingen, 11.10.2001 - Peter Liehr

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