Afghanistan: US-Flugzeuge haben wieder Taliban-Stellungen bombardiert. Die Kämpfe finden momentan vorwiegend im Norden Afghanistans statt. Die Nordallianz spricht von einigen Erfolgen, steht jedoch bekanntermaßen momentan unter Erfolgsdruck, da die USA an ihrer Tauglichkeit als strategischer Partner zweifeln, machen sie doch gestrigen Berichten zufolge angeblich den Eindruck eines zusammengewürfelten Haufens mit nur wenig Kampfkraft und Einsatzwille. (Meldungen, die ich weder bestätigen noch dementieren kann. Meldungen von Seiten der Nordallianz werden jedenfalls in den Medien mit Skepsis angesichts ihrer Glaubwürdigkeit begutachtet.) Auch über einen abgestürzten US-Kampfhubschrauber wird heute berichtet.
Tübingen, 06.11.2001 - Peter Liehr
Die humaniären Bedingungen werden immer unerträglicher, es wird von Menschen berichtet, die auf der Flucht aus den Kampfgebieten sterben. Außerdem wird voraussichtlich bald starker Schneefall einsetzen und humanitäre Hilfe, so sie denn kommt, enorm erschweren. Im Panshir-Tal, 100 km nördlich von Kabul, ist bereits heute ein Meter Schnee gefallen. Fünf Millionen Menschen brauchen laut UNHCR dringend Hilfe. Die USA haben die Absicht bekundet, wichtige Straßen und Pässe mit Bulldozern noch ein paar Wochen nach Eintritt des Schneefalls passierbar zu halten.
Von Seiten der Taliban wird heute wie auch schon gestern berichtet, sie forderten eine große humanitäre Aktion unter Beteiligung der UNO und anderer Organisationen. [Quelle heute: Radio BBC World Service.]
Tübingen, 06.11.2001 - Peter Liehr
Deutschland ist von den USA (bereits gestern) um militärische Unterstützung sowohl durch Material als auch durch Truppen gebeten worden. Bundeskanzler Schröder hat alle Bundestagsparteien, auch die PDS (die aufgrund ihrer Ablehnung sämtlicher Militäraktionen bereits aus früheren Gesprächen ausgeschlossen worden war), zu einem Spitzentreffen ins Bundeskanzleramt einberufen, um sie über die Anforderung deutscher Soldaten durch die USA zu informieren. Die Anfragen sind offenbar schon recht konkret. Etwa 4 000 Bundeswehrsoldaten sollen angefordert worden sein. Das Bundeskabinett wird (u.a. laut CDU-Spitzenpolitiker Merz) am Mittwoch kommende Woche (14.11.2001) eine Entsendung von Bundeswehrsoldaten beschließen. [Quellen: Radio BBC World Service; Radio SWR 2, Aktuell, um 12.00 Uhr MEZ]
Es darf also angenommen werden, dass ein Einsatz der Bundeswehr nahe bevorsteht, selbst wenn die rot-grüne Koalition keine eigene Mehrheit für die militärische Beteiligung finden sollte. Als Anzeichen für das letztere könnte gewertet werden, dass Grünen-Politiker Kuhn gestern nicht mehr von uneingeschränkter, sondern von kritischer Solidarität mit den USA sprach. Eine solche Haltung hatte ich mir ja - unabhängig von Parteien und politischen Tendenzen - schon von Anfang an gewünscht (vgl. meine Notizen zum 16.09.2001 und das Walter-Jens-Zitat vom 21.09.2001). Was diese Aussage jedoch genau zum jetzigen Zeitpunkt bedeutet, ob damit eine Krise in der rot-grünen Koalitionsdisziplin verbunden sein wird und ob sich ein bedeutsamer Anteil der Grünen gegen eine Bundeswehr-Beteiligung wenden wird, bleibt abzuwarten. Denn auch die Haltung kritischer Solidarität will mit Inhalten gefüllt werden, und es wäre gut gewesen, dies wäre innerhalb der Partei der Grünen bereits früher, auf jeden Fall aber vor der jetzt eingetretenen Lage geschehen, sollten sich weitere Grüne zu Kuhns Haltung hinzugesellen. Dass viele Grüne der Parteibasis gegen die Militäreinsätze sind, ist kein Geheimnis. [Quelle: Radio SWR 2, Aktuell]
3 900 Soldaten sollen nach Merz' Worten angefordert worden sein, darunter insbesondere ABC-Truppen, Spezialkommandos, Lufttransporteinheiten und Marineeinheiten. Die Bundeswehr soll offenbar zunächst vorwiegend logistische Aufgaben übernehmen. Mutmaßungen darüber, ob sie später auch direkt für Kampfeinsätze verwendet wird und wie lange es bis dahin dauern wird, sind im Moment noch nicht angebracht, obwohl eine derartige Fortentwicklung der Ereignisse durchaus schnell erfolgen kann. [Quelle: Radio SWR 2, Aktuell]
Um 13.00 Uhr MEZ bestätigt Bundeskanzler Schröder innerhalb einer Pressekonferenz die Bereitstellung von 3 900 Soldaten. Deutschland komme damit seinen Bündnispflichten in vollem Umfang nach. Logistische und unterstützende Aufgaben sollen im Vordergrund stehen (u.a. Sanitäts- und Lufttransporteinheiten wurden angefordert), so Bundeskanzler Schröder, dem zufolge keine Luftwaffeneinheiten über und keine Bodentruppen in Afghanistan von der Bundeswehr gestellt werden sollen. Schröder: "Für den jeweiligen Einsatz erhalten wir die nationale, letzte Entscheidung."
Überblick: Folgende Truppenarten werden voraussichtlich zur Verfügung gestellt werden:
Clemens Ferenkotte (langjähriger Amerika-Korrespondent der ARD) spricht von einem historischen Moment. Erstmals in ihrer Geschichte wird die Bundeswehr offiziell für einen kriegerischen Einsatz zur Verfügung gestellt. [Quelle: Bayerischer Rundfunk, Radio B5 Aktuell, 13.15 Uhr - 13.25 Uhr MEZ]
Mir kommt bei Ferenkottes Äußerungen in den Sinn, dass es auch bei den unter humanitäre Vorzeichen gestellten Luftangriffen gegen Serbien im ausgehenden Jugoslawienkonflikt vor gar nicht allzu vielen Jahren zu einer deutschen Beteiligung kam. Mag man auch die humanitären Prämissen jenes damaligen Waffenganges gelten lassen, so schließen sich doch an diesem Punkt einige Anschlussüberlegungen an:
Damals wurden unter anderem Donaubrücken als strategische Ziele ins Visier genommen - und ihre Trümmer nicht wieder beseitigt. Noch bis heute, glaube ich, ist die Donau nicht durchgehend per Schiff passierbar. Aber Handels- und Verkehrswege sind wichtig für den Wiederaufbau eines Landes (das sich im Falle Serbiens offenbar nun doch endlich in neue, demokratischere Richtungen bewegt).
Die Problematik, dass es nicht nur teuer ist, etwas kaputt zu schießen, sondern dass auch Wiederaufbau viel Geld kostet, darf also nicht vergessen werden. Nun mag man sagen, es gäbe in Afghanistan, diesem über Jahrzehnte hin leidgeprüften und von Krieg zerstörten Land, doch kaum Infrastruktur, die (bzw. deren Zerstörung und Wiedererrichtung) finanziell besonders schwer wiegen könnte - ein Teil der Absurdität der derzeitigen Lage offenbart sich ja dann, wenn man die Wertrelationen der eingesetzten Waffen (z.B. des "Stealth"-Bombers als des bislang teuersten Kampfflugzugs aller Zeiten) im Verhältnis zu den meisten der angegriffenen Ziele betrachtet. Ich denke jedoch, es ist wichtig, dass Geld nicht nur in die Angriffe, sondern nach ihrem Ende und nach der zu erhoffenden Bildung einer demokratisch legitimierten afghanischen Regierung auch in Aufbaumaßnahmen (allerdings nicht nur Wiederaufbau) und Infrastrukturpläne fließt. Es wäre zynisch, hinterher nur ein paar Lehmhütten wieder aufzubauen und ein paar verschüttete Höhleneingänge freizugraben.
Davor, dass sich vorwiegend internationale Großkonzerne dessen annehmen, was einmal "die afghanische Wirtschaft" gewesen sein mag, davor braucht man, so glaube ich, eher keine "Bedenken" haben. Dennoch halte ich für die Zukunft eine Diskussion für wichtig, die sich der Frage annimmt, wer sich denn um Wiederaufbau kümmern sollte. Ich begebe mich nun auf vages Terrain, indem ich mir erlaube, weit voraus zu mutmaßen: Vorerst denke ich, dass im Wiederaufbau Nicht-Regierungsorganisationen eine bedeutende Rolle spielen könnten. Ganz sicher bin ich mir jedoch noch nicht, inwieweit sie sich für solche Aufgaben eignen und ob sie von ihnen nicht überfordert sind. Es wird gefragt werden müssen: Welche Organisation repräsentiert welche Interessen und wie gelangen wir zu einer Ausgewogenheit dieser Anliegen? Wie gesagt: weit voraus weisende Überlegungen. Ob sie relevant werden, wird die Zukunft zeigen.
Ich denke zu strategisch und vergesse bei meinen Zukunftsüberlegungen die Menschen, die Afghanen. Diesen Vorwurf mache ich mir nach kurzem Innehalten gerade selbst. Verwundete werden behandelt, seelisch geschädigte Menschen psychologisch begleitet, Alte und Kranke werden betreut werden müssen. Und Flüchtlingen muss geholfen werden, das dürfte die zeitlich am nächsten bevorstehende Aufgabe sein. (Von ihrer Aufnahme hierzulande hörte man in den vergangenen Wochen jedoch nichts mehr.) Und dabei hoffe ich innig und sozusagen "mit sehr appellativem Blick" auf die Regierungen der im Einsatz befindlichen Streitkräfte, dass nicht zu allem Überfluss auch noch mit möglichen Kontaminationsschäden aus uranhaltiger Munition wird umgegangen werden müssen - auch das eine frustrierende Erkenntnis aus den Luftangriffen auf Serbien. Kurzum: All dies erfordert Mühe, trägt Konfliktpotential in sich und kostet Geld. In diesem Sinne verstehe ich auch Jeannette Rankins zeitlose Äußerung: "Einen Krieg kann man ebenso wenig gewinnen wie ein Erdbeben." Behalten wir dies, ob wir nun den Militäreinsätzen mit Verständnis oder Unverständnis begegnen, möglichst immer mit im Auge!
Tübingen, 06.11.2001 - Peter Liehr
Frankreich; USA: Der französische Präsident Jacques Chirac ist zu Besuch in New York. Während er selbst starke Unterstützung für die Militäraktionen signalisiert, werden aus der französischen Bevölkerung zunehmend kritische Stimmen hörbar. Weitere Hintergründe dazu liefern Berichte aus den Vierteln französischer Vorstädte mit einem hohem Anteil arabischstämmiger Bevölkerung. Die dort oft herrschenden starken sozialen Probleme, das Identifikationspotential mit der ebenfalls leidenden afghanischen Bevölkerung - und vermutlich bei manchen eine gewisse Sympathie mit den in Organisationen, gegen die sich die Angriffe in Afghanistan offiziell richten - all dies droht derzeit, die Situation in französischen "banlieues" zum "überzukochen" zu bringen. Als Konsequenz daraus ist von einer "taktierenden Haltung" der französischen Regierung zu lesen, was ihre Bereitschaft angeht, eigenes Militär für Afghanistan zur Verfügung zu stellen.
Tübingen, 06.11.2001 und 08.11.2001 - Peter Liehr
USA: US-Präsident George W. Bush bekräftigt in einer Rede seine Auffassung, Neutralität sei im Kampf gegen den Terrorismus nicht möglich. Osama Bin Ladens Terrororganisation Al Quaida versuche, chemische, biologische und nukleare Waffen zu erwerben.
Tübingen, 06.11.2001 - Peter Liehr